Jedem Christenherzen wohnt die unsterbliche Intuition inne, daß des Menschen wahres Leben und sein wahres Sein nicht materiell sondern geistig sind. Diese Überzeugung, die in keiner Beziehung zu bloßem menschlichem Instinkt steht, bringt Paulus im 8. Kapitel seines Briefs an die Römer zum Ausdruck mit den Worten: „Derselbe Geist gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind”. Diese große Wahrheit rüttelt die Menschen früher oder später mit stets zunehmender Dringlichkeit auf, des Menschen wahres Leben und wahre Wohnstätte im Geist, in Gott, zu suchen und zu finden.
Die Anstrengungen der Sterblichen in dieser Richtung beruhen allzuoft auf der Annahme, daß der Mensch durch Sünde von Gott getrennt worden sei, und daß er durch materielle Opfer die Gunst eines sogenannten strafenden Gottes wiedergewinnen müsse. Einige Religionen lehren, daß Fasten oder sich zu gewissen Jahreszeiten und für eine bestimmte Zeit materieller Nahrung enthalten als Sühne für Sünde erforderlich sei. Der höhere Zweck des Fastens ist jedoch sittliche und geistige Selbstläuterung, damit eine innigere Gemeinschaft des einzelnen mit dem Göttlichen verwirklicht werden kann.
Am Versöhnungstage, dem einzigen im mosaischen Gesetz verordneten Fasttag, war die Einhaltung gewisser sinnbildlicher Bräuche zur Sühnung der Sünde gefordert. Es zieht sich jedoch durch das ganze Alte Testament ein goldener Faden nach oben gerichteten Denkens hindurch, das sich von einem materiellen Standpunkt zu geistigeren Gottesbegriffen und infolgedessen zu klarerer Wahrnehmung des Wesens wahrer Anbetung erhebt. Jahrhunderte vor Jesus empfand Jesaja den Gegensatz zwischen rein äußerlichem Brauch und der Freude wahren Fastens mit seinen praktischen heilenden Ergebnissen im menschlichen Leben. Dieser Unterschied ist im 58. Kapitel des Propheten Jesaja klar veranschaulicht, wo wir lesen: „Sollte das ein Fasten sein, das ich erwählen soll, daß ein Mensch seinem Leibe des Tages übel tue? .... Das ist aber ein Fasten, das ich erwähle: Laß los, welche du mit Unrecht gebunden hast; laß ledig, welche du beschwerst; gib frei, welche du drängst; reiß weg allerlei Last. ... Alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung wird schnell wachsen”.
Christus Jesus brachte der Menschheit die Offenbarung des vollkommenen Gottes und des vollkommenen Menschen. Er lehrte, daß der wirkliche Mensch, das zum göttlichen Bild und Gleichnis geschaffene Kind Gottes ist, geistig und vollkommen wie der Vater. Indem er das allzuoft mit Heuchelei gezeigte „saure Gesicht” beklagte, veranschaulichte er auch, daß wahres Fasten als geistige Salbung, Selbstläuterung im Heiligtum des persönlichen Bewußtseins durch Überwinden des Bösen Freude bereitet. „Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf daß du nicht scheinest vor den Leuten mit deinem Fasten, ... und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich”.
Die tiefe geistige und praktische Bedeutung der Lehren Jesu wurde jedoch nicht völlig verstanden und war jahrhundertelang vorübergehend verdunkelt. In gewissem Umfange besteht das materielle Fasten heute noch in einigen Konfessionen der christlichen Kirche. Ehrfurchtsvoll und mit geheimem und heiligem Sehnen nach innigerer Gemeinschaft mit Gott haben viele ernste Christen die vorgeschriebene Zeit materieller Enthaltsamkeit eingehalten. Andere haben die bleibenden erneuernden und heilenden Ergebnisse solches Einhaltens ehrlich bezweifelt. Der Mann war aufrichtig, der sagte: „Ich habe die christliche Kirche geliebt und die vorgeschriebene Fastenzeit gern eingehalten; aber ich habe immer noch einen kranken Körper und bin leicht erregbar”.
Wie wunderbar doch das Licht geistiger Auslegung ist, das Mrs. Eddys Entdeckung, die Christliche Wissenschaft, auf die göttlich eingegebene Heilige Schrift wirft! In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” ist die den wunderbaren Worten und Werken des großen Nazareners zugrunde liegende Wissenschaft enthüllt, die die Sterblichen durch geistiges Verständnis befähigt, seinem Beispiel zu folgen. Auf Seite 242 dieses Lehrbuchs lesen wir: „Es gibt nur einen Weg zum Himmel, zur Harmonie, und Christus zeigt uns diesen Weg in der göttlichen Wissenschaft. Das heißt, keine andere Wirklichkeit kennen — kein anderes Lebensbewußtsein haben — als das Gute, als Gott und Seine Widerspiegelung, und sich über die sogenannten Schmerzen und Freuden der Sinne erheben”.
Das wahre Fasten, das Jesus lehrte und betätigte, ist in dem Bericht seiner Heilung des fallsüchtigen Knaben veranschaulicht. Er sagte zu seinen Jüngern, die ihn fragten, warum sie den Fall nicht heilen konnten: „Diese Art kann mit nichts ausfahren denn durch Beten und Fasten”. Mrs. Eddy legt Fasten aus als „es ablehnen, den Anmaßungen der Sinne zuzustimmen” (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 222). Jesus sagte nie, daß strenge Enthaltsamkeit das menschliche Denken und Leben vergeistige.
Die Wissenschaft des Christentums zeigt den Unterschied zwischen dem Wirklichen und dem Unwirklichen, zwischen dem Geist und der Materie, zwischen der Wahrheit und dem Irrtum, zwischen dem wirklichen Menschen und den Sterblichen. Da der Geist, Gott, das göttliche Gemüt, das unendlich Gute, immer gegenwärtig ist, sind das Böse und die Materie unwirklich und unwahr. Das Böse muß als das vermeintliche Gegenteil des göttlichen Gemüts, als die Unwahrheit des sogenannten fleischlichen Sinnes angesehen werden, die den von Gott geschaffenen geistigen Menschen nie berührt. Die Christliche Wissenschaft geht noch weiter und zeigt den Sterblichen, wie sie dies durch geistiges Verständnis im persönlichen Überwinden falschen Denkens und Lebens beweisen können. Flüstern die materiellen Sinne des fleischlichen Gemüts Groll, Haß, Krankheit, Leid und Mangel ein? Alle derartigen falschen Einflüsterungen können durch das Verständnis, daß sie unwirklich sind und keine Herrschaft über den Menschen haben, der das göttliche Wesen ausdrückt und immer eins mit Gott ist, zum Schweigen gebracht und vernichtet werden. Das Verneinen und Überwinden des Bösen, nicht Enthaltung von materieller Nahrung, ist das wahre Fasten.
Wenn sich die Christlichen Wissenschafter durch geistiges Verständnis alles dessen enthalten, was in ihrem Denken und Leben Gott unähnlich ist, gehen sie in die Freude geistigen Bewußtseins ein, verwirklichen sie des Menschen Herrschaft über das Böse und können die Heilungswerke tun, die Christus Jesus seine Nachfolger tun hieß. Dies ist die Frucht des wahren Fastens, was seit der Entdeckung der Christlichen Wissenschaft durch Heilen von Sünde, Krankheit und Leiden in der ganzen Welt bewiesen worden ist.
Jesus fastete beständig, lehnte es ab, den Anmaßungen der materiellen Sinne zuzustimmen. Dies befähigte ihn, beständig mit Gott eins zu sein und die Kranken und die Sünder augenblicklich zu heilen. Schließlich konnte er zu seinen Jüngern sagen: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden”. Alle, die dem großen Meister nachfolgen, soweit sie es verstehen, werden zu dem immerwährenden Fest der Seele geführt, gehen in die ewige Freude geistigen Bewußtseins und unaussprechlichen Friedens mit Gott ein.
In dem Heiligtum eines mit dem Guten erfüllten vergeistigten Bewußtseins gibt es nichts, dessen man sich zu enthalten hätte. Das Böse hat dort keinen Raum. So wird die Verheißung des Offenbarers in Erfüllung gehen: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Holz des Lebens, das im Paradies Gottes ist”.
Dankbarkeit ist der Drehpunkt, auf dem sich die Tür des menschlichen Bewußtseins den Einlaß begehrenden reichen Segnungen Gottes öffnet.