Als Martha vor der Auferweckung des Lazarus Jesus entgegenging, versicherte sie ihn ihres unbedingten Glaubens an ihn. Sie wußte, daß ihr Bruder nicht gestorben wäre, wenn er dort gewesen wäre, und sie zweifelte sogar jetzt nicht daran, daß alles, was er von Gott bittet, ihm gegeben wird. Es war jedoch Jesu Absicht, den Anwesenden die wahre Bedeutung des Christus, jenes Bewußtseins der Kraft des allgegenwärtigen Gemüts, die Kranken zu heilen und die Toten aufzuwecken, die von keiner persönlichen Ermächtigung oder Vermittlung abhängig ist, verständlich zu machen. Mit höchster und christusähnlicher Feststellung seiner Wesenseinheit mit der göttlichen Art sagte er zu Martha: „Ich bin die Auferstehung und das Leben”. In diesem Verständnis des ewigen Seins muß jeder in sich die bewußte geistige Erkenntnis des Lebens, das Gott ist, finden.
Der sterbliche Mensch, der den Augenschein des materiellen Sinnes für Leben hält, der in Finsternis beginnt und endet, von Begrenzung und Gefahren umgeben ist, dem Zufall unterworfen ist und der Krankheit zum Opfer fällt, hat die göttliche Versicherung in der Offenbarung kaum beachtet: „Siehe, ich habe vor dir gegeben eine offene Tür, und niemand kann sie zuschließen”. Dennoch war dies die Tür, die Jesus allen Menschen öffnete, indem er bewies, daß der sterbliche Glaube machtlos ist, die Gesetze geistigen Wissens, die das Bewußtsein des Menschen unversehrt erhalten, aufzuheben. Weil Christus Jesus in Wort und Tat der Weg war, veranschaulichte er „die Auferstehung und das Leben”. Am Grabe des Lazarus zeigte er, wie er in zwei anderen bekannten Fällen gezeigt hatte und auf Golgatha dartun sollte, daß der Tod keine Gewalt über das Leben des Menschen hat.
„Hoch über den sogenannten Gesetzen der Materie öffnet die Erhabenheit des Christentums eine Tür, die kein Mensch schließen kann; sie zeigt allen Völkern den Weg des Entrinnens von Sünde, Krankheit und Tod”, schreibt Mary Baker Eddy in „Christian Science versus Pantheism” (S. 12). Von dieser Höhe geistigen Wissens gab Jesus der Menschheit seine große Botschaft vom beständigen Sein. Von dieser Höhe stieg er nie auch nur zu vorübergehender Annahme der Beweisgründe der Endlichkeit, menschlicher Verwundbarkeit und Unbeständigkeit herab. Von dieser Höhe geistiger Erkenntnis gab Mrs. Eddy der Welt die Christliche Wissenschaft, womit sie die Tür zu geistiger Freiheit, die der sterbliche Glaube geschlossen hatte, noch einmal weit öffnete.
Das wissenschaftliche Christentum lehrt keine künftige Auferstehung, kündigt kein fragliches Entrinnen von den Übeln des Fleisches an. Sie befreit die Menschen jetzt, daß sie ergreifen können, was ihnen im Reiche der Unendlichkeit gehört. Sie lernen erkennen, daß das Leben nicht von materiellen Besitztümern abhängt, nicht unter der Gewalt grausamer Vererbungen oder launischer sogenannter Gesetze steht. Sie lernen verstehen, daß der Ausgang zum ewigen Leben nicht eine Tür ist, die die Menschen Tod nennen, die eines Tages so unerbittlich vor ihnen geschlossen wird, wie sie vor anderen geschlossen worden ist. Die Tür zur Gesundheit, zum Freisein von früherer oder künftiger Knechtschaft, sei es von Sünde oder von Krankheit, ist jetzt offen; und wenn diese Tatsache durch die Wahrheit enthüllt wird, werden die Menschen die unendlichen Fähigkeiten ihres Seins, das, was das Leben in dem grenzenlosen, unauslöschlichen Bewußtsein der Unsterblichkeit ist, gewahr.
„Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist”, erklärte Jesus. In der Allgegenwart geistigen Wissens weilt der Mensch, wo er immer gewesen ist—im Einssein mit dem Vater, unberührt von dem Kommen und Gehen des sterblichen Daseins—wo er keiner schmerzhaften Anpassung bedarf, und wo er nicht erwartet, eine ferne, geheimnisvolle Reise antreten zu müssen.
Trotz allem, was Jesus durch viele mächtige Werke, sogar das Auferwecken der Toten, seine Jünger gelehrt und ihnen bewiesen hatte, können wir schließen, daß ohne seine Auferstehung das Christentum kaum fortgelebt hätte. Nach der Kreuzigung waren die Fischer entmutigt, verzagt zu ihren Netzen zurückgekehrt. Das Vertrauen in ihren Meister und seine Botschaft war verschwunden. Es bedurfte der Auferstehung Jesu in ihrer ganzen erstaunlichen Dramatik, ihrem menschlich unbestreitbaren Beweis der Unsterblichkeit, sie in ihre Ergebenheit zurückzutreiben, ihren Eifer wieder zu entzünden und ihre Ausdauer zu stärken.
„Was scheint ein Stein zwischen uns und dem Auferstehungsmorgen zu sein?” fragt Mrs. Eddy (Miscellaneous Writings, S. 179). Und sie antwortet darauf: „Die Annahme von Gemüt in der Materie. Wir können nur dann in die geistige Auferstehung kommen, wenn wir das alte Bewußtsein von der Seele im Sinn aufgeben”.
Nicht bloß in einem einzigen gewaltigen Ereignis, sondern darin, daß er sich beständig als den Vertreter der Seele anerkannte, bewies Christus Jesus seine Unsterblichkeit. So müssen alle in seinen Fußtapfen wandeln, indem sie täglich die scheinbar kleinen oder großen Steine wegwälzen, die sie in materiellem Denken gefangenhalten wollen, die sie mit dem Sinn anstatt mit der Seele wesenseins erklären wollen. Von der Höhe des Geistes aus beweisen sie Schritt für Schritt, daß keine Erprobung ihres Glaubens, keine Verschwörung der Umstände sie der göttlichen Versicherung berauben kann, daß eine offene Tür vor sie gesetzt ist. Und im Bewußtsein der Offenbarung, des Fortschritts und des Dienstes lernen sie erkennen, daß es eine Tür ist, die niemand schließen kann.
