Obgleich der Durchschnittsmensch wohl selten über Identifizierung nachdenkt, scheint sich jedermann fast die ganze Zeit mit etwas zu identifizieren, und dies geht weiter, selbst wenn man im Schlafe träumt. Ja, das menschliche Dasein scheint ein beständiger Identifizierungsvorgang zu sein. Betrachten wir z.B. die einfache Handlung, in einen Spiegel zu sehen. Fast immer identifizieren wir uns mit dem Bilde im Spiegel. So sind wir erzogen worden.
Im weiteren Sinne identifiziert man sich jedoch auch mit Dingen, Zuständen und Gedanken, die nicht unmittelbar zu dem gehören, was man als seine persönliche äußere Erscheinung ansieht. Wir sagen, daß wir uns mit gewissen religiösen Anschauungen oder politischen Bekenntnissen identifizieren. Und es ist ganz natürlich, sein Heim und seine Umgebung als einen Teil von sich und als ein Mittel anzusehen, wodurch man sich ausdrückt. In einem noch weiteren Sinne identifizieren wir uns mit allem, was wir für wirklich und wahr halten. Indem wir es in unserem Bewußtsein beherbergen, identifizieren wir es mit unserem Dasein.
Wenn einer vor einem Hohlspiegel steht und ein Zerrbild sieht, identifiziert er sich nicht damit, weil er versteht, daß das Bild nicht wahr und daher nicht wirklich ist. Dies trifft auch auf Traumbilder zu. In dem Traum z.B., der Irrsinn genannt wird, kann einer sich einbilden, er sei ein Weizenkorn, und daher in große Verlegenheit kommen, wenn er einen Sperling sieht und befürchtet, daß dieser ihn fressen werde, was sich in einem aufgezeichneten Falle von Geistesgestörtheit tatsächlich zutrug.
Dies zeigt, wie sorgfältig man auf seine Gewohnheit zu identifizieren und auf die daraus folgende Notwendigkeit einer rechten Zergliederung der mentalen Bilder achten sollte, die beständig als unsere Gedanken erscheinen — Bilder, die wir gewohnt sind, unsern Körper, unsere Umgebung, unser Ich zu nennen. In gewissem Maße wird diese Notwendigkeit erkannt, und das, was die Menschheit Psychologie nennt, hat Kenntnis davon. In einem Aufsatze im Forum vom v Januar 1937 stellt Winfred Rhoades den Satz auf: „Sich bemitleiden ist eines der unheilvollsten Dinge, die man sich antun kann”. Sich bemitleiden bedeutet, sich mit etwas Unvollkommenem, das Mitleid verdient, identifizieren.
Es erhebt sich die Frage: „Wie ist es möglich, mich nicht zu bemitleiden? Hier bin ich und glaube, daß ich ein schwaches menschliches Geschöpf sei, von Furcht erfüllt, weil offenbar empfänglich für die Einflüsterungen der Krankheit und des Unglücks, das Opfer eines unabwendbaren Schicksals!” Selbst die materiell wohlhabendsten und gesündesten Leute geben allgemein zu, daß sie nach der herrschenden Ansicht schließlich geistig und körperlich zerfallen. Gewiß keine sehr rosige Aussicht!
Hier kommt uns die Christliche Wissenschaft zu Hilfe und wirft kühn die Frage auf: „Können wir uns auf das verlassen, was die materiellen Sinne darbieten? Mit andern Worten: Sind diese Sinne wahr und wirklich?” Es bedurfte des geistigen Blicks und Scharfsinns unserer Führerin Mary Baker Eddy, diese Fragen mit einem bestimmten „Nein” zu beantworten.
Zu einem solchen Schluß gelangt man nicht durch Befragung der materiellen Sinne. Wenn man zu diesen geht und sie fragt: „Seid ihr wirklich?”, antworten sie: „Gewiß sind wir wirklich!” Da die materiellen Sinne zugestandenermaßen unvollkommen und begrenzt sind, war sich Mrs. Eddy darüber im klaren, daß sie eine zuverlässigere Quelle um Rat fragen mußte. Daher wandte sie sich, wie wirkliche Denker es immer getan haben, an Gott, die Erste Ursache. Dies führte sie zur Entdeckung der Christlichen Wissenschaft, der Wissenschaft oder Erkenntnis Gottes, des Christus, der Wahrheit, mit ihrem praktischen Wert für die furchterfüllte, leidende, begrenzte Menschheit.
Hier mag der Ungläubige, der Gottesleugner, ausrufen: „Aber ich glaube eben nicht an Gott! Dies ist ein Irrtum. Niemand lehnt sich gegen den Gedanken auf, daß er als das Ergebnis einer Ursache besteht. Er ist sich entweder durch innere Erkenntnis oder durch Überlegung bewußt, daß er das, was er sein Ich und das Weltall nennt, nicht geschaffen hat. Niemand wird daher in Abrede stellen, daß er als Wirkung besteht. Natürlich schließt dies eine erste erhaltende Ursache oder Gott, oder wie man es auch nennen mag, in sich. Die Auflehnung richtet sich immer gegen die unvollkommene und folgewidrige Art, wie diese unendliche Ursache dargeboten wird. Gerade deshalb, weil wir ein gewisses Verständnis der Unendlichkeit, der Vollkommenheit, der Ewigkeit haben, müssen diese eine Ursache haben; und von dieser Ursache leiten wir alles echte Wissen her. Die Ursache, welche Unendlichkeit, Vollkommenheit, Ewigkeit ausdrückt, muß unumgänglich ewig durch sich selbst bestehen. Da das unendlich Gute ohne Anfang und ohne Ende ist, kann es nichts kennen oder zulassen, was seiner eigenen vollkommenen Art, der ewigen Wahrheit oder dem Geist, entgegengesetzt ist.
„Geist ist unsterbliche Wahrheit; Materie ist sterblicher Irrtum. Geist ist das Wirkliche und Ewige; Materie ist das Unwirkliche und Zeitliche” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 468). Dies ist Mrs. Eddys bedeutungsvolle Schlußfolgerung; und diese Wahrheit ist dazu bestimmt, die Menschheit von allem zu befreien, was göttlich unwahr und unwirklich ist.
Hier haben wir einen unfehlbaren Maßstab für rechte Identifizierung. Rechte Identifizierung erfordert einen Maßstab, wonach wir die mentalen Bilder oder Gedanken, die beständig beanspruchen, unsere Gedanken zu sein, beurteilen können. Müssen wir sie alle annehmen? Gewiß nicht; denn das hieße oft den niedrigsten und furchtsamsten nachgeben. Wir müssen wissen, was wirklich und wahr ist, was also für uns und über uns unwandelbar und unveränderlich ist. Nur das Unwahre und Unwirkliche ist veränderlich.
Was ist nun das Wirkliche und Wahre? Die Christliche Wissenschaft ermahnt uns, alles, was zu der Ersten Ursache gehört, wahr und wirklich zu nennen, und alles, was Gottes vollkommener, unendlicher Art entgegengesetzt ist, so wahr und wirklich es nach dem materiellen Sinnenzeugnis auch scheinen mag, als unwirklich und unwahr zu bezeichnen. Hierin liegt der Schlüssel zu rechter Identifizierung und daher zur Befreiung von den verderblichen Beschränkungen, unser Ich falsch zu identifizieren.
Was ist dieses „Ich”? Es ist nicht das, was die materiellen Sinne darzubieten scheinen und was sich zungenfertig und insinuierend als „meine Furcht”, „mein Problem”, „meine Krankheit”, „meine Sünde” usw. ankündigt. Was sich menschlich als „mein Ich” darzubieten scheint, aber das direkte Gegenteil der Vollkommenheit und Unendlichkeit Gottes ist, ist nicht „mein” wahres und wirkliches Selbst. Der einzige mögliche und folgerichtige Schluß ist, daß das wirkliche und wahre „Ich” aus dem besteht, was Gott — die einzige Wahrheit und Wirklichkeit — ausdrückt oder bekundet. Unser wirkliches Selbst besteht aus den geistigen, göttlichen, unsterblichen Ideen, die Gott darstellen.
Hat man diese Erkenntnis einmal erlangt und ihre praktische Bedeutung verstanden, so empfindet man die dringende Notwendigkeit der Berichtigung seiner Anschauungen. Die auf die vermeintliche Wirklichkeit und Wahrheit der materiellen Sinne gegründeten alten Methoden und Normen der Identifizierung kommen außer Gebrauch. Ein neuer Weg ist einzuschlagen, wodurch die Erfahrung „eines neuen Himmels und einer neuen Erde”, die Johannes auf der Insel Patmos machte, in zunehmendem Maße auch unsere Erfahrung wird. Man sieht sich immer mehr genötigt, sich mit seinem geistigen Gottesverständnis wesenseins zu erklären. Daher das wachsende Verlangen, Gott besser, völliger, inniger, subjektiver zu erkennen und zu verstehen. Die alte Vorstellung von einem mächtigen Herrn, der hier lobt und dort straft, ist in der Christlichen Wissenschaft durch die Wahrnehmung ersetzt, daß Gott das göttliche Prinzip ist, das die Liebe ist. Dieses erhabene Verständnis der Gottheit befähigt einen, sich fortschreitend vom Unvollkommenen und Sterblichen, vom Furchtsamen und Sündigen, vom Zeitlichen und Materiellen zu trennen. Was Besorgnis, Furcht, Krankheit zu verursachen pflegte, schwindet aus Mangel an Identifizierung dahin.
In der Christlichen Wissenschaft werden die beiden folgenden Erklärungen Jesu besser verstanden und ihr praktischer Wert höher geschätzt. Als er sagte: „Ich und der Vater sind eins”, erklärte er sich wesenseins mit Gott; und in seiner Erklärung: „Denn es kommt der Fürst dieser Welt, und hat nichts an mir”, verneinte er nachdrücklich jede Identifizierung mit dem Teufel — dem Bösen — oder einem sterblichen Sinn des Daseins. Die Werke des Meisters sind die natürliche Erfahrung dessen, der denkt, wie Jesus dachte. Die Freude und die Fortdauer der göttlichen Wirklichkeit werden als unser wirkliches und einziges Selbst verstanden.
Diesen Wechsel von Leid zur Freude, von Finsternis zum Licht muß jeder früher oder später erfahren. Warum nicht jetzt? Man kann dieser Unvermeidlichkeit nicht entrinnen. In „Unity of Good” (S. 64) drückt Mrs. Eddy dies beredt aus: „Die Sterblichen mögen die glatten Gletscher erklimmen, über die finsteren Klüfte springen, über das trügerische Eis klettern und auf dem Gipfel des Montblanc stehen; aber sie können nicht zurückwenden, was die Gottheit weiß, noch der Identifizierung mit dem entrinnen, was in dem ewigen Gemüt wohnt”.