Der geistige Sinn erwartet immer die Entfaltung des Guten; aber der materielle Sinn kehrt diese rechte Erwartung oft um und erwartet beharrlich die Fortdauer der Krankheit oder der Niedergeschlagenheit oder irgend eines andern Irrtums, der sich in menschlichen Bewußtsein scheinbar verschanzt hat. Ernste Anhänger der Christlichen Wissenschaft, die jahrelang an deren Lehren unbeirrt festgehalten haben, haben in der Regel viele Beweise des Christusheilens gehabt. Einige dieser Heilungen sind schnell zustande gekommen, während andere geduldige und beharrliche Arbeit erfordert haben mögen.
Wenn die Notwendigkeit der Behandlung fortdauert, gleichviel, ob ein Wissenschafter sich selber oder jemand anders behandelt, wird seine geistige Fähigkeit, nur Gutes zu erwarten, erprobt. Wenn man metaphysisch für einen arbeitet, der viele Behandlungen entweder von sich selber oder von anderen Christlichen Wissenschaftern gehabt hat, scheint es zuweilen schwierig, im Denken des Patienten die klare Erwartung zu wecken, daß diese spezielle Behandlung, die er empfangen soll, die Kraft hat, die vollständige Heilung zu bewirken. Die Tatsache, daß er darum gebeten hat, läßt erkennen, daß er eine Erleichterung erhofft. Wenn er aber Pläne für weitere Arbeit macht, so ist dies ein Zeichen, daß er die vollständige Heilung eher in der Zukunft als im jetzigen Augenblick erwartet.
Vielleicht hält einer, der um Hilfe bittet, das Wiederauftreten gewisser körperlicher Schwierigkeiten für einen Teil seines Alltagslebens. Viele solche Erscheinungsformen des Glaubens an Krankheit sind christlich-wissenschaftlicher Behandlung sofort gewichen. Wenn sie aber nicht sofort weichen, führt größere und erneute Erwartung des Guten zur Heilung. Um uns dieses Ziel erreichen zu helfen, warten viele herrliche Aussichten der Wahrheit darauf, daß wir sie entdecken. Die Gleichnisse, durch die Jesus einige seiner tiefsten geistigen Lehren übermittelte, sind nie versiegende Quellen der Erfrischung. Manchmal, wenn man mehr von den morgenländischen Sitten und Gebräuchen der Zeitgenossen Jesu kennen lernt, entfalten sich neue Gesichtspunkte der in diesen Gleichnissen enthaltenen heilenden Wahrheit. Während jener letzten Tage in Jerusalem vor der Kreuzigung gab Jesus seinen erwählten Freunden viele Anweisungen.
Eines der Gleichnisse, die jenen denkwürdigen Tagen zugeschrieben werden, ist das, worin der große Lehrer die fünf klugen Jungfrauen schildert, die mit Öl in ihren Lampen zur Mitternachtstunde (Matth. 25) bereit waren, den Bräutigam zu empfangen. Es scheint, daß bei dem damaligen mangelhaften Verkehrswesen in Palästina die Hochzeiten oft spät in der Nacht stattfanden, damit geladene Gäste, die in größerer Entfernung arbeiteten und wohnten, anwesend sein konnten. Wenn die Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen waren, gingen die Brautjungfern auf die finsteren Straßen hinaus, um den Bräutigam zu empfangen und ihm zum Haus zu leuchten. Diesen Brauch schildert Mrs. Eddy in ihrem Aufsatz „Treue” in „Miscellaneous Writings” mit dem schönen Wortbild (S. 342): „Die frohe Erwartung jedes Augenblicks war, den Bräutigam, den, ganz Lieblichen‘, zu sehen.” Im Glossarium ihres Lehrbuchs (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 582) hat sie dies klargemacht, indem sie den Begriff „Bräutigam” auslegte als „geistiges Verständnis; das reine Bewußtsein, daß Gott, das göttliche Prinzip, den Menschen als Seine eigene geistige Idee schafft, und daß Gott die einzige schöpferische Kraft ist”. Was für eine Erneuerung des Denkens und der Inspiration zur Arbeit durch Betrachtung des Gleichnisses Jesu im Lichte dieser Begriffsbestimmung gewonnen werden kann!
Eine Behandlung, die auf der Grundlage eines erweckten „geistigen Verständnisses” und der Erkenntnis erteilt wird, daß „Gott die einzige schöpferische Kraft ist”, muß unfehlbar rechte Erwartung in sich schließen, das heißt nicht die Erwartung eines bestimmten körperlichen oder finanziellen Ergebnisses, das am Körper bezw. im Bankguthaben in Erscheinung tritt, sondern die Erwartung geistigen Verständnisses nur um dieses Verständnisses willen. Es ist zwecklos, die Materialität zu verneinen — eine Verneinung, die im Prinzip einen Teil jeder christlich-wissenschaftlichen Behandlung bildet — und dann bei der Materie einen Beweis der Wirksamkeit der Verneinung zu suchen. Paulus sagt klar: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes”, und diese Offenbarung muß vornehmlich geistig sein.
Hierzu hört man oft einwenden: „Aber ich habe mich an die Christliche Wissenschaft gewandt, um leibliche Heilung zu erlangen, und sollte ich sie nicht erwarten?” Die Antwort lautet „ja” und „nein”. „Ja”, weil Gott verheißen hat: „Euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, soll aufgehen die Sonne der Gerechtigkeit und Heil unter ihren Flügeln”, und „nein”, weil der Änderung in der Erscheinung „der Kreatur” eine erwachte Erkenntnis der wahren geistigen Art des Menschen als des Sohnes Gottes vorausgehen muß. Auf körperliches Aussehen achten, heißt nicht den Bräutigam, den „ganz Lieblichen”—geistiges Verständnis — erwarten.
Daß Übel von einem Geschlecht auf ein anderes übertragen werden können, ist ein Glaube, der viel falsche Erwartung in sich birgt. Die Tatsache, daß die heutigen Naturwissenschafter behaupten, daß die sogenannte Materie sich beständig ändere und erneuere, trägt viel dazu bei, die ältere Theorie zu untergraben, daß ein Erwachsener in seinem Körper etwas Materielles, das in der Körperlichkeit der Eltern vorhanden gewesen sein soll, behalten könne. Als ein solcher Naturwissenschafter, nach dessen Theorie der Körper sich jedes Jahr sozusagen erneuert, gefragt wurde, wie er sich Vererbung erkläre, erwiderte er: „Gedankenerwartung”. Da wir nach einer grundlegenden Lehre der Christlichen Wissenschaft die von Gott verliehene Fähigkeit haben, über unsere Gedanken zu herrschen, ist es klar, daß wir die uralte abergläubische Erwartung von Übeln, die von einem menschlichen Vorfahren geerbt sein sollen, in die „frohe Erwartung” umändern können, daß wir nur göttliche, gesundheitspendende, von Gott kommende Eigenschaften bekunden; denn wir sind keine Waisen ohne Erbe. Wir haben ein herrliches Erbe und müssen es beharrlich beanspruchen, um die mesmerischen Einflüsterungen von übertragenen Übeln, die das sterbliche Gemüt durch Materialisten so lange verkündigt hat, zu vernichten.
Die Christliche Wissenschaft lehrt in Übereinstimmung mit der Bibel, daß wir ein wunderbares Erbe der Gesundheit, der Freiheit und der Fülle haben, das wir unter Vorweisung gültiger Ausweise nur zu beanspruchen brauchen. Webster erklärt das Wort „Ausweise” als die „einer Person ausgestellten Zeugnisse”. Unsere Ausweise bestehen in der erweckten Erkenntnis, daß „Gott, das göttliche Prinzip, den Menschen als Seine eigene geistige Idee schafft”. Wie die fünf Jungfrauen können wir in der Mitternacht menschlicher Annahmen den Bräutigam — geistiges Verständnis — mit dem Licht des Öls der Heiligung suchen und vertrauensvoll Befreiung von chronischem oder wiederauftretendem Leiden erwarten. Es ist weise, falsche Erwartungen, die oft unter der Oberfläche zu lauern scheinen, zu handhaben. Gründlichkeit bei dieser Arbeit ist wichtig, da sich das unterbewußte Denken, wenn aufgedeckt, manchmal als das gerade Gegenteil des bewußten Bemühens, recht zu denken, erweist. Während das sterbliche Gemüt scheinbar in bewußtes und unbewußtes Denken geteilt ist, besteht die Christliche Wissenschaft auf der vollständigen Unwirklichkeit jedes Bewußtseins außer dem geistigen; und wenn der Wissenschafter hieran festhält, wird er sowohl von dem offenkundigen als auch von dem verborgenen Feind befreit.
In dem Kapitel „Früchte”, mit dem das Lehrbuch schließt, ist jedes Zeugnis ein Beweis, daß die „frohe Erwartung” der Heilung durch jene empfänglichen Leser in Erfüllung ging. Eine Wohltatenempfängerin bemerkt bündig (S. 682): „Ich legte meine Last Gott zu Füßen und nahm sie nicht wieder auf”.