In der menschlichen Erfahrung gibt es Zeiten, wo sich die Zukunft ohne vertraute Merkzeichen und hoffnungs- oder trostlos vor einem auszubreiten scheint. Man kann diesen Zustand eine Wüstenerfahrung nennen, die sicher einer umfassenderen und glücklicheren Lage als der ihr vorausgegangenen Raum geben muß.
Solcher Art muß Noahs Erfahrung gewesen sein, als er sich bei so wenig Aussicht auf die künftige Erneuerung auf einer endlosen Wasserfläche, auf die es „vierzig Tage und vierzig Nächte” regnete, vereinsamt sah. So auch die Kinder Israel, die während ihres Aufenthalts in der Wüste wenig Augenschein von dem gelobten Lande hatten, der ihnen ihre damaligen Härten und Entbehrungen erleichtert hätte. Und Christi Jesu Erfahrung in der Wüste, die in der vollständigen Überwindung der Versuchungen des Bösen gipfelte, ging seinen wunderbaren Lehren und seinem großen heilenden Wirken voraus.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, gibt auf Seite 597 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” für „Wüste” folgende Erklärung: „Einsamkeit; Zweifel; Finsternis. Unmittelbarkeit des Gedankens und der Idee; der Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt”.
Mrs. Eddy erlebte in ihren jüngeren Jahren „Einsamkeit, Zweifel, Finsternis”. Während jahrelanger Kränklichkeit und Freundlosigkeit hielt sie jedoch die Lampe ihres Gottvertrauens gewissenhaft in Ordnung, und schließlich erhob sie sich in das Sonnenlicht ihrer Entdeckung, daß Gott gut ist und Seine geliebte Schöpfung immerdar mit Gesundheit und Harmonie segnet. Sie lernte verstehen, daß das wahre Sein frei vom Bösen ist, weil das Böse unwirklich ist, und daß die ewige Wahrheit zur Heilung und Erneuerung der Menschheit immer gegenwärtig ist.
Es ist zu beachten, daß den erwähnten Erfahrungen in jedem Falle ein geistiger Schritt vorwärts vorausgegangen war. Noah hatte der Stimme Gottes gehorcht und eine Arche gebaut und seine und seiner Familie Sicherheit Gott anvertraut. Die Kinder Israel hatten verlangt, aus Ägypten ziehen zu dürfen, um ihrem Gott zu dienen, wie wir in der Bibel lesen. Unmittelbar vor den Versuchungen Jesu in der Wüste fand seine Taufe statt, als es klar war, daß sein öffentliches Wirken begann. Weniger bekannte Pilger, die sich ihres angeborenen menschlichen Verlangens nach dem Guten bewußt sind, brauchen daher über ihren Aufenthalt in der Wüste nicht zu erschrecken, sondern können aus Mrs. Eddys tröstlichen Worten Mut fassen (Wissenschaft und Gesundheit, S. 566): „Wie die Kinder Israel siegreich durch das Rote Meer, die dunkle Ebbe und Flut menschlicher Furcht, hindurchgeführt wurden—wie sie durch die Wüste geführt wurden, mit müden Schritten durch die große Einöde menschlicher Hoffnungen wanderten und die verheißene Freude vorahnten, so wird die geistige Idee alle rechten Wünsche auf ihrem Wege vom Sinn zur Seele, von einem materiellen zum geistigen Begriff des Daseins, hinan zu der Herrlichkeit leiten, die denen bereitet ist, die Gott lieben”.
Die Welt scheint heute eine Wüstenerfahrung zu erleben. Ein zunehmendes Verständnis Gottes und Seiner segensreichen Gesetze fordert die Ansprüche des Bösen heraus und drängt zur Erfüllung höherer Ideale. Wie zärtlich doch denen, die in einer Wüstenerfahrung ringen, Mrs. Eddys Worte in einem Briefe an einen Schüler klingen (Christian Science Sentinel vom 12. September 1936): „Gott, die göttliche Liebe, die Ihr Leben ist, wird es regieren. ... Fassen Sie Mut und vertrauen Sie auf diese Liebe von ganzem Herzen, so wird um dieses kindlichen Glaubens willen das Gute Sie von dem Sinn des Bösen und von dem Bösen des materiellen Sinnes befreien und Ihren Weg in der Wahrheit und in Rechtlichkeit festlegen”!
Diese Festlegung „in der Wahrheit und in Rechtlichkeit” muß sicher zustande kommen. Die Wüstenerfahrung ist nicht endlos: die Sonne bricht durch die Wolken, und die Worte Jesajas gehen in Erfüllung: „Die Wüste wird fröhlich stehen und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und fröhlich stehen in aller Lust und Freude. Denn die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, der Schmuck Karmels und Sarons. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, den Schmuck unseres Gottes”.
Wenn Gottes Allheit erkannt wird, sieht man, daß keine gewissenhafte Anstrengung, kein rechter menschlicher Schritt, der während der Zeit, die dem falschen Sinn als Wüste erscheint, unternommen worden ist, umsonst oder unnütz gewesen ist. In ihrem schönen Gedicht „Befriedigt” schreibt unsere Führerin (Gedichte, S. 79):
„Die Jahrhunderte brechen an, die Erdgebundenen wachen auf,
Gott wird verherrlicht!
Wer Seinen Willen tut—stets Sein Gleichnis ist —
Ist befriedigt”.
