Wer mit der Bibel vertraut ist, kennt Jesu Versuchung in der Wüste. Er weiß, daß der Teufel ihn zu verleiten suchte, Steine zu Brot zu machen, um seinen Hunger zu stillen; daß er ihm einflüsterte, wenn er wirklich der Sohn Gottes sei, könne er sich von der Zinne des Tempels hinabstürzen und die beschützende Macht Gottes beweisen; und wie er ihm dann die Reiche der Welt anbot, wenn er niederfallen und ihn anbeten würde. Aber Jesus ging auf keine dieser teuflischen Einflüsterungen des eigensinnigen sterblichen Gemüts auch nur im geringsten ein.
Unmittelbar vor diesem Erlebnis in der Wüste hatte sich Jesus von Johannes taufen lassen, und es ist berichtet, daß damals der Geist Gottes über Jesus kam und er eine Stimme sagen hörte, daß er Gottes geliebter Sohn sei. Aber als der Meister, vom göttlichen Geist erfüllt, von seiner Taufe kam, sah er vor sich den Augenschein eines anscheinend anderen Zustandes, den der Teufel oder der materielle Sinn in den Versuchungen darbot.
War der Geist dafür verantwortlich, daß der Teufel Jesus versuchte? Nein. Setzt Gott, der liebende Vater, Seinen geliebten Sohn der Gefahr des Bösen aus? Dies steht weder mit der Heiligen Schrift noch mit der göttlichen Wissenschaft im Einklang. Gott benützt nicht Böses, um den Menschen zu prüfen, ob er dem göttlichen Prinzip treu ist. Die Bibel sagt uns im zweiten Brief des Petrus (2, 9): „Der Herr weiß die Gottseligen aus der Versuchung zu erlösen.“ Die Versuchungen waren Annahmen des fleischlichen Sinnes, tierischer Magnetismus, der einflüsterte, der Meister solle der Materie anstatt dem Geist Folge leisten. Damit suchte der Irrtum Jesu Bestimmung, das Böse, Krankheit und den Tod zu überwinden, einzuschränken und zu vernichten.
Für uns liegt der Wert dieser Geschichte in der Wüste darin, daß sie die Frage ins Licht rückt, ob wir den Wegen der Welt, materieller Bequemlichkeit, falschen Vergnügungen und kurzem Ruhm folgen und dadurch unfähig sein wollen, von der Macht des Geistes Gebrauch zu machen, oder ob wir uns den lebenerhaltenden, Gesundheit und Glück verleihenden Gesetzen der unendlichen Liebe unterstellen und dadurch die geistige Herrschaft widerspiegeln, Böses zu überwinden, wie Jesus es überwand.
Das menschliche Bewußtsein wird dadurch, daß es sich aus einem materiellen zu dem geistigen Sinn des Lebens erhebt, veredelt. Die Wüste stellt sinnbildlich das Reich menschlicher Annahme dar, aus dem alle Menschen gerettet werden müssen. Sie ist ein Übergangszustand des menschlichen Denkens, wo vielleicht Fortschritt stattfindet, selbst wenn wir es im Augenblick nicht immer sehen. Mary Baker Eddy bestimmt den Begriff „Wüste“ auf Seite 597 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ als „Einsamkeit; Zweifel; Finsternis. Unmittelbarkeit des Gedankens und der Idee; der Vorhof, in welchem der materielle Sinn der Dinge verschwindet, und der geistige Sinn die großen Tatsachen des Daseins zur Entfaltung bringt.“
Was für eine Hoffnung auf Erlösung hätte man, wenn man mit den Versuchungen des Teufels allein in der Wüste wäre? Wie könnte jemand aus dem sogenannten Reich des materiellen Sinnes entrinnen, wenn nicht eine höchste Macht und ein liebendes Gesetz des Guten gegenwärtig wären, ihm zu helfen? Jesus war sich dieses Gesetzes des Guten, der Gegenwart der Liebe, jeden Augenblick bewußt, als er anscheinend in der Wüste war und vom Teufel versucht wurde. Der Geist oder die göttliche Liebe leitete den Meister in dieser scheinbaren Wüste; der Vater führte, stützte und schützte ihn. Jesus kannte die Wahrheiten über Gott und den Menschen und bewies sie. Er wies jede Versuchung des Teufels mit der geistigen Wahrheit zurecht und siegte dadurch über den Irrtum. Das Erlebnis in der Wüste führte zu dem Beweis der Allerhabenheit des Geistes und der Unwirklichkeit, dem Nichts, des Bösen.
Nachdem der Teufel aufgehört hatte, ihn zu versuchen, „kam“, wie wir lesen, „Jesus wieder in des Geistes Kraft nach Galiläa“ (Luk. 4, 14). Wie ermutigend es ist, zu wissen, daß Jesus durch diese Erfahrung in der Wüste die Macht des Geistes nicht aus den Augen verlor! Er ging in der Kraft des Geistes in die Wüste, und er kehrte in dieser Kraft zurück. Jesus beharrte in seinem Verständnis, daß er der Sohn Gottes war; daher konnte er alles vernichten, was das sterbliche Gemüt einflüsterte. In der Wüste erprobte er sein geistiges Verständnis. Da der Meister an den geistigen Wirklichkeiten des Seins festhielt, kam er aus der Wüste materieller Versuchung heraus durch das Wissen, daß der Sohn Gottes, des Menschen wirkliche Wesenheit, immer in Gottes Fürsorge ist.
Die Kinder Israel wanderten 40 Jahre in der Wüste. Sooft sie sich aufrichtig an Gott wandten, hatten sie Beweise der Gegenwart Gottes: sie wurden mit Manna versorgt und konnten aus einem Felsen Wasser bekommen. Sogar ihre Kleider waren nach vierzig Jahren nicht verbraucht (5. Mose 8, 4). Im 107. Psalm lesen wir: „Sie gingen irre in der Wüste, in ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, da sie wohnen konnten,. .. die zum Herrn riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten und führte sie einen richtigen Weg, daß sie gingen zur Stadt, da sie wohnen konnten.“ Und damit wir Gottes allezeit liebevolle Fürsorge nicht vergessen, fügt der Psalmist hinzu: „Die sollen dem Herrn danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut.“
Wer hat nicht schon einmal ein Wüstenerlebnis gehabt? Die Annahmen Niedergeschlagenheit, Furcht, Mangel, Treulosigkeit, Mißerfolg, Sünde, Krankheit, Trennung und Leid treten allgemein an die Menschen heran. Braucht man in der Wüste dieser sterblichen Annahmen zu bleiben? Durchaus nicht. Der Geist ist ebenso bei jedem, der vermeintlich in der Wüste ist, wie der Geist bei Jesus war; was uns sehr not tut, ist, daß wir die Augen öffnen und Gottes Gegenwart und Güte anerkennen. Gott kann nie abwesend sein, selbst wenn materielle Einflüsterungen einem ihre unrechtmäßigen Ansprüche anscheinend zuflüstern oder manchmal zurufen mögen. Man erlangt den Sieg dadurch, daß man an den Tatsachen des Geistes unerschütterlich festhält, wie es unser geliebter Meister tat. Die göttliche Liebe ist gegenwärtig, um der Not abzuhelfen, was auch die materielle Geltendmachung sein mag.
Mrs. Eddy ermutigt uns mit den Worten (Miscellaneous Writings, S. 81, 82): „In der Trostlosigkeit menschlichen Verstehens hört und erhört die göttliche Liebe den menschlichen Hilferuf, und die Stimme der Wahrheit äußert die göttlichen Wahrheiten des Seins, die die Sterblichen aus den Tiefen der Unwissenheit und des Lasters herausheben. Dies ist des Vaters Segen. Dieser Segen gibt dem menschlichen Leben Lehren, leitet das Verständnis, erfüllt das Gemüt mit geistigen Ideen, stellt die jüdische Religion wieder her und offenbart Gott und den Menschen als das Prinzip und die Idee alles Guten.“
Die Bibel und die Christliche Wissenschaft wollen uns im wesentlichen zeigen, daß man nur durch das Überwinden der weltlichen Annahmen Stolz auf Stellung, Machtbegierde, materielle Behaglichkeit und sündiges Begehren in geistigem Verständnis und Leben vorwärtskommen kann. Jeder überwundene Irrtum bringt seinen Lohn in geistigem Wachstum und geistiger Herrschaft. Wir können uns unserer Verpflichtung, das Böse zu meistern, nicht entziehen und denken, daß wir mit der Zeit das Himmelreich erlangen werden, ohne unsere Würdigkeit selber zu beweisen. Unsere Führerin schreibt: „Nicht durch Sünde oder Selbstmord, sondern durch das Überwinden von Versuchung und Sünde entrinnen wir dem Überdruß und der Gottlosigkeit des sterblichen Daseins, und erlangen den Himmel, die Harmonie des Seins“ (Miscellaneous Writings, S. 53). Die Wahrheit verlangt Fortschritt von jedem, und geistiger Fortschritt führt zu persönlicher Erlösung.
Ein Mann befand sich in der Wüste eines Nervenzusammenbruchs, wo Einwendungen der Unfähigkeit und andere Annahmen ihn quälten. Trotz dieser Lügeneinflüsterungen hielt er daran fest, daß die Liebe Gottes gegenwärtig war und ihn regierte, und er wurde durch die Christliche Wissenschaft vollständig geheilt. Eine Frau war viele Jahre lang in der Wüste der Annahme gewesen, daß ihrem Körper ein gewisser chemischer Bestandteil mangle, und sie hatte Pillen eingenommen, um ihrer Verdauung nachzuhelfen. Das Gesetz Gottes heilte sie in einigen Tagen von dem Glauben an diesen Mangel. Sie nahm keine Pille mehr ein und wurde vollkommen gesund. Jemand anders, der glaubte, seine Gelegenheiten zu Fortschritt im Geschäft seien begrenzt, kam aus dieser Wüstenerfahrung dadurch heraus, daß er sich restlos darauf verließ, daß Gott die Quelle aller Erleuchtung, Tätigkeit und Versorgung ist.
Die Wüste kann für eine Person diese, für einen andern jene sterbliche Annahme sein; aber man kann ungeachtet der Art des Irrtums dadurch aus der scheinbaren Wüste herauskommen, daß man die in der Christlichen Wissenschaft enthüllten Wahrheiten über Gott und den Menschen anwendet; denn dies ist das Mittel, sterblichen Glauben jeder Art zu überwinden.
Mrs. Eddy wurde von dem Geist aus der Wüste körperlichen Leidens und drohenden Todes zur Entdeckung der Christlichen Wissenschaft geführt. Der Geist dämmert jedem empfänglichen menschlichen Bewußtsein auf und erhebt das Denken zur Wahrnehmung der tatsächlichen Gegenwart der rettenden Gnade Gottes. Keine Wüste verdrängt Gott; aber Gott vernichtet den menschlichen Glauben an eine Wüste für den, der sich bemüht, des Vaters Allgegenwart, Güte und Liebe besser verstehen zu lernen.
Was für ein anspornendes Vorbild uns der Meister hinterlassen hat! Wenn das menschliche Denken in einer Wüste zu sein scheint, können wir uns an die Christusidee klammern und an der herrlichen Wirklichkeit der unauflöslichen Beziehung des Menschen zu seinem himmlischen Vater unerschütterlich festhalten. Dies führt uns aus der Wüste heraus.
Wohlan, es ist noch um ein klein wenig zu tun, so soll der Libanon ein Feld werden, und das Feld soll wie ein Wald geachtet werden. Und zu derselben Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen, und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Armen unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.— Jesaja 29, 17–19.
 
    
