Als Paulus zu dem Oberhauptmann der Römer sagte (Apg. 22:28): „Ich bin frei geboren“ (engl. Bibel), kann man wohl sagen, er bezog sich auf den göttlichen Zustand des Menschen; während die Bemerkung des Oberhauptmanns „Ich habe [diese Freiheit] mit großer Summe zuwege gebracht“ gewissermaßen die Erlösung durch Loskauf versinnbildlicht — das, was uns allen nottut. Die göttliche Wahrheit hinsichtlich jedes einzelnen ist, daß er frei und von Irrtum unbefleckt ist; doch für den menschlichen Sinn muß diese Freiheit durch die erlösende Kraft der Christlichen Wissenschaft erlangt werden.
Die Sterblichen haben eine Neigung, Bequemlichkeit in der Materie zu suchen. Die Christliche Wissenschaft bietet nicht diese Bequemlichkeit. Sie bietet uns eine Gotteserkenntnis, die befriedigt und heilt. Sie bietet uns die Freude, die aus der Demonstration erlangt wird, und den Frieden, den wir finden, wenn wir ein Problem durch die Anwendung des göttlichen Gesetzes gelöst haben, wie es in der Christlichen Wissenschaft offenbart wird; doch bloße Zustimmung und bloßer Glaube an die Christliche Wissenschaft verschafft uns kein müheloses Dasein, das keine weiteren Probleme bietet. Wie zu Zeiten des römischen Oberhauptmanns hat die Freiheit einen hohen Preis. Die Freiheit von Sünde, Krankheit und Tod, welche die Christliche Wissenschaft verheißt, kann nur „mit großer Summe“ erkauft werden — dem Preis, aus dem menschlichen Bewußtsein alles das auszumerzen und zu überwinden, was des Menschen Einssein mit Gott leugnet. Mary Baker Eddy sagt uns in ihrem Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 9): „Wir müssen ein Kreuz auf uns nehmen, ehe wir uns der Früchte unsrer Hoffnung und unsres Glaubens erfreuen können.“
Jesus und Mrs. Eddy gebrauchten zwei Symbole, um die Anstrengung anzudeuten, die erforderlich ist, um die sterbliche Annahme und die menschliche Fähigkeit zu übersteigen und das Einssein mit dem Unendlichen auszudrücken und zu demonstrieren. Diese zwei Symbole sind das Kreuz und der Kelch. Christus Jesus sagte (Joh. 18:11): „Sollte ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?“ Er sagte auch, daß, wenn ihm jemand nachfolgen wolle, er sich selbst verleugnen und sein Kreuz auf sich nehmen und ihm folgen müsse (siehe Matth. 16:24). Bedeutet das nicht, daß man alles zurückweisen sollte, was den geistigen Fortschritt hindern und das Erlangen der von der Christlichen Wissenschaft verheißenen Freiheit verzögern würde? Mit andern Worten, denen, die dem Wegweiser nachfolgen möchten, steht es zu, störende falsche Annahmen, einer falschen Erziehung entstammende Begrenzungen oder die Annahme, daß wir in jeder Beziehung eingeschränkte endliche Wesen sind, zu leugnen.
Mrs. Eddy sagt in ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 213): „Alles Gute, was ich je geschrieben, gelehrt oder gelebt habe, entsprang dem Kreuztragen, der Selbstvergessenheit und dem Glauben an das Rechte.“ Können ihre Nachfolger dann erwarten, ihre Lehren zu beweisen, indem sie das Kreuz vermeiden, verschmähen oder darüber klagen? Unsere Führerin trug das Kreuz; und wenn sie auch sagt, daß kein anderer den Kelch bis auf die Neige trinken könnte, den sie als Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft zu trinken hatte, so sagt sie doch auch ganz klar, daß niemand deren Eingebung erlangen könnte, der diesen Kelch nicht gekostet hat. (Siehe „Rückblick und Einblick“, S. 30.)
Die Verleugnung des falschen Ichbegriffs, die Jesus forderte, ist der erste Schritt beim Auf-sich-Nehmen des Kreuzes. Jeder, der an einem materiellen Ichbegriff festhält, trachtet natürlich danach, dieses Ich in Wohlsein und Bequemlichkeit zu erhalten; denn der Materialist ist nicht geneigt, die Interessen dieses angeblichen Ichs unterzuordnen, um den Läuterungsprozeß durchzumachen, der unerläßlich ist, wenn die wahre und befriedigende Individualität in die Erscheinung treten soll. Nur in der Selbstvergessenheit kann der höchste Begriff der Individualität gefunden werden. Selbstvergessenheit führt zum Verständnis von der wahren Individualität des Menschen. Und da das Verständnis von der wahren Individualität des Menschen nur durch die Demonstration von der Allumfassendheit des Menschen als Widerspiegelung des allumfassenden Gemüts erlangt werden kann, so segnet der unausbleibliche Ausdruck der wahren Individualität alle, die damit in Berührung kommen.
Es ist nicht immer leicht, das zu verleugnen, was das sterbliche Gemüt das Ich oder Selbst nennt. Der Annahme nach behaupten, beschützen und verteidigen wir es immerwährend und erklären seinen Wert oder seine Wertlosigkeit. Ja wir widmen dieser Erklärung besondere Zeit. Wir behaupten, daß es mißverstanden und verleumdet wird, während eigentlich alles, was wir zu tun brauchen, darin besteht, das Kreuz auf uns zu nehmen — die Aufgabe, zu beweisen, daß der wahre Mensch in nichts Gott unähnlich ist.
Diese Forderung kann nicht immer mühelos erfüllt werden. Jesus demonstrierte sein Einssein, seine Verbundenheit, mit dem Vater nicht ohne Mühe und Anstrengung; ebensowenig können wir es tun. Doch durch die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft erkennen wir, daß wir ein Prinzip haben, wodurch wir des Menschen Einssein mit Gott demonstrieren können — eine Wissenschaft, die uns auf dieser Bahn leitet. Es ist nicht etwa eine Fahrt aufs Geratewohl, die wir unternehmen, wenn wir auf dem Pfad der Selbstverleugnung und des Kreuzes wandeln; denn der Weg ist vorgezeichnet, und — wie Jesus sagte — er ist gerade und schmal. Wenn wir anfangen, auf diesem Pfade zu wandeln, finden wir Hindernisse, die uns den Weg zu versperren drohn, Steine des Anstoßes wie Stolz, Eigenwillen, Neid und Trägheit. Das ist es, was das Kreuz so schwer und den Weg so steinig erscheinen läßt.
Wenn die Last der allgemeinen falschen Annahme uns zuweilen niederzudrücken scheint, so sollten wir uns daran erinnern, daß, wenn wir stetig weiterschreiten auf diesem Wege der Selbstaufopferung und Selbstverleugnung, die Hindernisse immer geringer werden, weil sie immer klarer als unwirklich erkannt werden. In dem Maße, wie wir fortschreiten, werden wir oft finden, daß unsere Worte und Handlungen anscheinend von einer Kraft gelenkt werden, die nicht unser eigen ist; Heilungen werden schneller und müheloser bewirkt, bis wir schließlich erkennen, daß wir immer voller die Gewalt und die Freude des Christus offenbaren.
Das Herz, das von Liebe erfüllt ist, weigert sich nicht, das Kreuz zu tragen. Selbstaufopferung bringt uns eine Freude und Heiterkeit, die den Materialisten unbekannt ist. Sie erlöst uns allmählich von der sterblichen Selbstheit, von jenen sterblichen Fehlern und Charakterzügen, die uns stören und hindern möchten. Dann wird in dem Maße, wie der falsche Ichbegriff zu verschwinden beginnt, der von Gott erschaffene Mensch erscheinen, gleich dem „König in seiner Schöne“. Paulus erschaute diesen Lohn für die Getreuen; denn er schrieb (Röm. 8:18): „Ich halte es dafür, daß dieser Zeit Leiden der Herrlichkeit nicht wert sei, die an uns soll offenbart werden.“
Will sich etwa eine Annahme von Armut Geltung verschaffen? Nehmt das Kreuz auf euch und beweist den göttlichen Reichtum. Gott in Seiner unendlichen Fülle sorgt für eine jede Seiner Ideen. Da dies eine göttliche Tatsache ist, können wir Anspruch darauf erheben, sie begreifen lernen und sie beweisen. Werden wir von der Furcht vor Schmerzen und Tod verfolgt? Laßt uns dieser Furcht nicht nachgeben, sondern uns erheben, das Kreuz auf uns nehmen und beweisen, daß wir in ewigem Wohlsein weiterbestehn, jedoch nicht in der Materie, sondern im Prinzip, und daß das göttliche Leben, unser einziges Leben, unvergänglich und aus sich selbst bestehend ist und sich selbst ausdrückt. Der Mensch, die Idee Gottes, kann sich nicht fürchten; denn, wie es in der Bibel heißt (2. Tim. 1:7): „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht.“
Sucht irgend eine Form von Sünde sich Geltung zu verschaffen? Dann sollten wir uns weigern, so verblendet zu sein, daß wir die Notwendigkeit der Erlösung und des Kreuztragens nicht erkennen. In „Miscellaneous Writings“ (S. 319) lesen wir: „Wenn das Erkennen der Sünde zu gering ist, sind die Sterblichen in Gefahr, nicht einzusehn, inwieweit sie selbst der Sünde nachgeben, dagegen die Sünden ihres Nächsten verstärkt zu sehn. Das führt leicht zu Selbstgefälligkeit und Heuchelei.“ Hinsichtlich der Christlichen Wissenschafter fügt sie hinzu: „Sie müssen entweder die Sünde in sich selber überwinden, oder sie dürfen die Sünde nicht aus den Augen verlieren; sonst sind sie Sünder, die der schlimmsten Selbsttäuschung verfallen sind.“ Selbstgerechtigkeit möchte uns so verblenden, daß wir die Notwendigkeit des Kreuztragens und des geistigen Strebens nicht mehr erkennen können. Wir sollten uns weigern, am Widerstand dieser Form des Widerchristen teilzuhaben.
Das Erschauen des Christus entlarvt die Sünde und zerstört den Anspruch der Sünde. Des Meisters nahtloses Gewand der Gerechtigkeit macht die Sterblichen auf ihr eigenes Sackleinen aufmerksam; aber laßt uns freudig daran gedenken, daß der Christus kommt, um das fleischgewordene Böse zu zerstören, und daß die Gegenwart des Christus, welche die Sünde aufdeckt, gleichzeitig die Gegenwart ist und sein wird, die sie heilt. Laßt uns also froh sein, wenn der Irrtum in unserm Bewußtsein ans Licht gebracht wird. Es bedeutet, daß das Licht des Christus gegenwärtig ist. Ohne dies Licht würde der Irrtum nicht aufgedeckt werden, sondern immer weiter in der Dunkelheit versteckt bleiben.
Laßt uns also aufhören, über Probleme zu jammern, sondern sie vielmehr als die größte Gelegenheit zum geistigen Wachstum betrachten. Jesus schreckte vor keinem Problem zurück. Er trank den Kelch und bot ihn uns an, indem er uns sagte, daß wir ihn in der Tat trinken müßten, wenn wir seine Nachfolger sein wollten. Jesus nahm sein Kreuz auf sich und sagte, wer ihm nachfolgen wolle, müsse das Kreuz auch auf sich nehmen und ihm folgen. Das Kreuz kann nicht vermieden werden, doch es wird leicht, wenn wir es auf uns nehmen und tragen; es wird uns Stab und Stütze, bis wir das Kreuz des Bestrebens für die Krone der Erlösung ausgetauscht haben — ebenso wie der Gekreuzigte zum Verklärten wurde.
Die Christliche Wissenschaft ist nicht zu uns gekommen, um uns vor Unbequemlichkeiten zu bewahren und uns ewiges Vergnügen zu verschaffen, so daß wir nichts mehr zu tun haben und nur immer nehmen können. Die Wissenschaft ist nicht ein bequemer Weg zu materieller Sicherheit. Ihr Ziel ist nicht, uns von der Notwendigkeit des ernsten Strebens zu befreien, sondern uns vom Irrtum zu erlösen; und das kann nicht ohne ernstes Streben geschehn. Die heroischen Denker, die von Gott Gekrönten, sind diejenigen, die willig waren, Mühe und Arbeit auf sich zu nehmen, das Kreuz zu tragen und auf seiner Bahn zu wandeln, so lange noch Krankheit geheilt, Sünde vergeben und Kummer gelindert werden muß.
Der Größte wird immer der sein, der am willigsten ist zu dienen. Die Höhen, auf die unsre Arbeit uns erhebt, mögen manchmal kalt und windig erscheinen, doch die frische Luft ist kräftigend, und die Aussicht, die sich vor uns entfaltet, zeigt immer mehr Größe und Schönheit. Und nur durch das Erklimmen dieser Höhen kann er den von Gott gekrönten Gipfel erreichen und die Morgendämmerung des Geistes erschauen, die in Herrlichkeit über der Welt aufgeht.
So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen. — Galater 5:1.
 
    
