Als das Wunder und die Herrlichkeit des Christus in seiner unbegrenzten Anwendbarkeit auf die Nöte der Menschheit ihrem geistigen und empfänglichen Bewußtsein aufdämmerten, hegte Mary Baker Eddy die sehnliche Hoffnung, daß ihre Offenbarung und Entdeckung sofort und allgemein angenommen werden würde. Sie erkannte jedoch gar bald, daß die hartnäckigen und tief eingewurzelten materiellen Annahmen der menschlichen Wesen, sowohl individuell wie kollektiv, dem entgegenstanden, und daß die erlösende Wirksamkeit des Christus allmählich und gradweise kommen mußte und nur gemäß der geistigen Aufnahmefähigkeit des Einzelmenschen regiert und zugemessen werden konnte.
Sie erkannte, daß die Offenbarung des Christus, der sie den Namen „Christliche Wissenschaft“ gab, die absolute Wahrheit des Seins darlegte — Gott, Mensch und Weltall — und daß die Anwendbarkeit dieser Wissenschaft sich besonders auf die Menschheit bezog. Sie erkannte, daß die Ausübung dieser Wissenschaft sich mit den materiellen, falschen Annahmen und dem irrigen Denken der menschlichen Wesen befaßt. Daher ist die Christliche Wissenschaft besonders darauf anwendbar und geht darauf aus, dem menschlichen und sterblichen Bewußtsein Erlösung zu bringen. Der Christus, wie er in der Christlichen Wissenschaft offenbart wird, ist keine metaphysische Abstraktion. Er spricht zu dem menschlichen Bewußtsein. Er ignoriert es nicht.
Die Funktion der Wahrheit besteht stets darin, eine Lüge zu zerstören. Das Schulkind gibt seine irrige Vorstellung auf, daß zweimal zwei fünf ist, wenn es die mathematische Wahrheit annimmt, daß zweimal zwei vier ist. Dann kann es frei und harmonisch mathematische Wahrheiten beweisen. Etwas Ähnliches geschieht in der Christlichen Wissenschaft, wenn der Christus, die geistige Idee des Menschen als des gegenwärtig vollkommenen Kindes Gottes, im individuellen Bewußtsein den falschen Begriff vom Menschen und die Annahmen von Furcht, Sünde und Krankheit, die mit einer sterblichen Selbstheit verknüpft sind, ersetzen. Und was bleibt übrig, wenn diese Annahmen in ihr offenbares Nichts verschwinden? Nur des Menschen individuelles Bewußtsein vom Christus, der Wahrheit.
Es war Mrs. Eddy klargeworden, daß das Himmelreich, das in gewissem Sinne als das Bewußtsein der absoluten Vollkommenheit bezeichnet werden kann, nicht in einem Augenblick demonstriert oder erreicht wird. Auch verstand sie, daß man, um erfolgreich mit dem angeblichen Anspruch des Bösen fertigzuwerden, dessen Wesen begreifen lernen muß. Sonst werden die bösen Annahmen, die den Fortschritt hindern wollen, nicht als solche erkannt. Auf Seite 252 ihres Lehrbuches „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ gibt sie diese erleuchtende Erklärung: „Eine Kenntnis des Irrtums und seiner Machenschaften muß dem Verständnis der Wahrheit, welches Irrtum zerstört, vorausgehen, bis der ganze sterbliche, materielle Irrtum schließlich verschwindet, und die ewige Wirklichkeit, der von und aus dem Geist erschaffene Mensch als das wahre Gleichnis seines Schöpfers, verstanden und erkannt wird.“
Auf Seite 115 ihres Lehrbuches legt Mrs. Eddy die „wissenschaftliche Übertragung vom unsterblichen Gemüt“ dar — Gott und Seine göttlichen Synonyme, den Menschen als göttliches Ebenbild und die Idee als göttliche Widerspiegelung. Weiter beschreibt sie auf den Seiten 115 und 116 die drei Grade oder Stufen der Entfaltung des sogenannten sterblichen Gemüts und des menschlichen Bewußtseins unter den folgenden Überschriften: Erstens, „Verderbtheit“; zweitens, „Böse Annahmen im Verschwinden begriffen“; drittens, „Verständnis“. Diese drei Grade beschreiben oder skizzieren, was im Bewußtsein eines jeden Einzelmenschen stattfindet in dem Maße, wie er fortschreitet, durch ein Verstehen des Christus, von einem materiellen Bewußtseinszustand — dem Adamtraum — in ein Übergangsstadium, in dem böse Annahmen im Verschwinden begriffen sind. Hier werden rechte oder moralische Eigenschaften wirksam, wie Ehrlichkeit, Herzenswärme und so fort, und sie verdrängen die falschen Annahmen des Eigenwillens, Hasses und Stolzes, sowie andere materielle und sinnliche Annahmen. Mit dem dritten Grad ist der Anhänger bei einem Entwicklungsstadium angelangt, in dem geistiges Verständnis ausgedrückt und demonstriert wird. Er lernt, bewußt in dem Reich der Wirklichkeit zu verweilen, und geistige Kraft, Reinheit und göttliche Weisheit auszudrücken.
Dies sind die drei Stufen oder Entwicklungsstadien, die ein jeder von uns in der Wissenschaft durchmachen muß, wenn er die Lehren unserer Führerin annimmt. Es gibt keinen anderen Weg für uns. Es gibt keinen Richtweg, keinen Ausweg, der die Notwendigkeit vermeiden könnte, den Ansprüchen einer materiellen Selbstheit entgegenzutreten. Jeder einzelne Mensch muß durch besonderes Beten und Erkennen der Wahrheit demonstrieren, daß diese falsche Selbstheit unmöglich mit seinem wahren geistigen Sein identifiziert werden kann.
Die Stufen, die geistig aufwärts führen, wie das Studium unseres Lehrbuches zeigt, beziehen sich auf gedankliche Eigenschaften, die sich aus dem tiefstehend Materiellen zu dem Geistigen erheben. Sie beschreiben oder entwerfen den Erlösungsprozeß oder die Wirksamkeit, die sich im Bewußtsein eines jeden ernsten Anhängers der Christlichen Wissenschaft geltend machen muß. Natürlich sind diese Gedankenzustände und -stufen nicht streng voneinander getrennt. Man kann sich nicht sofort von dem ersten Grad, dem der Verderbtheit, gänzlich freimachen, um in den zweiten überzugehen. Auch kann man nicht gleich von dem ersten in den dritten, den des geistigen Verständnisses, hinüberspringen. „Die neue Geburt“, sagt uns unsere Führerin in ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ (Vermischte Schriften, S. 15), „ist nicht das Werk eines Augenblicks. Sie beginnt mit Augenblicken und fährt fort mit den Jahren; Augenblicken der Hingabe an Gott, des kindlichen Vertrauens und der freudigen Aufnahme des Guten; Augenblicken der Selbstverleugnung, der Selbstaufopferung, der vom Himmel eingegebenen Hoffnung und der geistigen Liebe.“
Man mag manche der Eigenschaften der zweiten Stufe bekunden, bei der böse Annahmen im Verschwinden begriffen sind, und sogar schon einen gewissen Grad von geistiger Erleuchtung — und trotzdem gelegentlich eine Eigenschaft ausdrücken, die bei dem ersten Grad oder auf der ersten Stufe erwähnt wird. Im Hinblick hierauf sagt Mrs. Eddy auf den Seiten 76 und 77 ihres Buches „Wissenschaft und Gesundheit“: „Das Erkennen des Geistes und der Unendlichkeit kommt hier oder hiernach nicht plötzlich. Der fromme Polykarp hat gesagt:, Ich kann mich nicht auf einmal vom Guten zum Bösen wenden.‘ Ebensowenig vollbringen andre Sterbliche den Wandel vom Irrtum zur Wahrheit mit einem einzigen Sprung.“ Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß es keinen Weg gibt, auf dem es uns erspart wird, die mit dem materiellen Ichbegriff verknüpften Veranlagungen und Charakterzüge durch spezifische Arbeit zu überwinden. „Schaffet, daß ihr selig werdet. ... Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“, sagt der Apostel Paulus im zweiten Kapitel seines Briefes an die Philipper.
In all ihren Schriften weist Mrs. Eddy liebreich und weise darauf hin, daß bei uns allen eine allmähliche Entwicklung zu beobachten ist, die sich in Selbstlosigkeit, Sanftmut, Demut, einem Abnehmen des Selbstbewußtseins und einem Zunehmen des Ausdrucks unpersönlicher göttlicher Liebe kundtut. Auferstehung und Himmelfahrt kamen selbst bei Christus Jesus allmählich zur Entfaltung. Unser Lehrbuch erwähnt den dritten Tag seines emporsteigenden Gedankens (siehe „Wissenschaft und Gesundheit“, S. 509). Die Werke des Meisters waren das unaufhaltsame In-Erscheinung-Treten des heilenden Christus. Der Beweis unseres geistigen Wachstums zeigt sich heutigentags in allmählicher Entfaltung und Wiedergeburt und vor allem in den Früchten der moralischen, mentalen und körperlichen Heilung.
