Es ist schon viel über den Begriff des Schweigens gesagt und geschrieben worden. Die Weisen vieler Völker haben sich mit dieser Frage beschäftigt; und doch verstehen nur wenige Sterbliche den Segen wahren Schweigens. An vielen Stellen lesen wir in der Heiligen Schrift vom Schweigen oder „Stillesein“. Im Psalm (46:11) heißt es: „Seid stille und erkennet, daß ich Gott bin.“ Nur wenn wir alles Materielle und Unharmonische ausschließen und in uns stille werden, steht uns der Weg zu unserm Vater-Mutter Gott offen.
Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, dieses wahre Schweigen zu üben und zu lieben. In den Schriften unserer Führerin Mary Baker Eddy gibt es viele Stellen, die sich auf die Bibel beziehen oder sie erklären. Hier sind auch die Richtlinien gegeben, die uns anleiten, den Weg zu Gott, dem Geist, zu finden. In ihrem Werk „Nein und Ja“ schreibt Mrs. Eddy (S. 8): „Wir sollten danach trachten, gegen jedermann langmütig, treu und barmherzig zu sein. Dieser geringen Bemühung wollen wir ein weiteres Vorrecht hinzufügen, nämlich Schweigen, wenn immer es Tadel ersetzen kann.“ Unsere Führerin bezeichnet es hier als ein Vorrecht, das Schweigen dann zu üben, wenn wir vielleicht glaubten, tadeln zu müssen. Oft mag es unmöglich oder sehr schwierig erscheinen, dieses Schweigen zu bewahren. Und doch, wieviel Herzeleid und Tränen bleiben denen erspart, die diesen inspirierten, weisen Rat befolgen. Wie dankbar würde es unser Nächster empfinden, wenn statt des lieblosen Tadelns ein Stillesein, ein liebevolles Wissen um seine Gotteskindschaft, eine unharmonische Situation überbrückte. Solches Schweigen kommt aus dem wahren Stillesein und aus dem Finden des eigenen Einsseins mit dem göttlichen Prinzip.
In diesem Zusammenhang erinnert sich die Verfasserin an eine ihrer bedeutsamsten Erfahrungen, eines Beweises, der ihr reichen Segen brachte. Eines Tages wurde sie in sehr ungerechter Weise von einem Nachbarn angegriffen und schwer beschuldigt. Sie war davon so überwältigt, daß sie nicht antworten konnte. Erst als sie wieder zu Hause angelangt war, kam ihr die Ungeheuerlichkeit dieser Anschuldigung klar zum Bewußtsein. Jetzt bedauerte sie, nicht geantwortet und sich nicht verteidigt zu haben, denn sie fühlte, daß man ihr eine höchst ungerechte Beleidigung zugefügt hatte. Widerstreitende Gedanken wollten sie bedrängen, und es kostete sie große Mühe, allmählich etwas Ordnung in ihr Denken zu bringen. Durch tägliches Studium der Lektionspredigt jener Woche im Christlich-Wissenschaftlichen Vierteljahrsheft und durch geistige Vertiefung, war sie am dritten Tag nach diesem Vorfall so weit, daß sie die Gedanken des sterblichen Zeugnisses, die Gedanken des sterblichen Gemüts, den Ideen Gottes, den Engeln Seiner Gegenwart, unterordnen konnte.
Sie erinnerte sich einer Stelle aus dem Matthäusevangelium, wo erzählt wird, daß Jesus bei seiner Verurteilung von dem Hohenpriester gefragt wurde (26:62): „Antwortest du nichts zu dem, was diese wider dich zeugen?“ Jesus aber „schwieg still“. Dann erkannte sie, welche Liebe sich in des Meisters Ausspruch am Kreuz ausdrückte (Luk. 23:34): „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Jegliches Gefühl der Disharmonie fiel von ihr ab und ein tiefer Friede und das Gefühl des Geborgenseins in Gottes Liebe kamen über sie. Sie war von inniger Dankbarkeit erfüllt, daß sie der Versuchung, sich mündlich oder schriftlich zu verteidigen, widerstanden und statt dessen alles in ihrem eigenen Bewußtsein geklärt hatte und nun alles Übrige Gott, der göttlichen Liebe, überlassen konnte.
Überdies war sie nun fähig zu begreifen, was Mrs. Eddy so treffend in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 305) sagt: „Ein unzufriedener, unharmonischer Sterblicher ist ebensowenig ein Mensch, wie Mißklang Musik ist.“ Die Tatsache, daß Gott den Menschen zu Seinem Bild und Gleichnis erschaffen hat, wie es im ersten Kapitel des ersten Buches Mose berichtet wird, wurde ihr von da an zum Wegweiser.
Und nun trat auch der äußere Beweis dieser Demonstration in Erscheinung. Am Abend des dritten Tages kam der betreffende Nachbar in aller Demut zu ihr, bat sie sehr um Verzeihung und sagte, daß er geschäftlich sehr überlastet sei und noch mit dem Nachtzug abreisen müsse, aber nicht gehen könne, bevor er ihre Vergebung erlangt habe. Mit welch freudiger Genugtuung und geistigem Verständnis konnte sie nun diesem reuevollen Nächsten die verzeihende Hand reichen, denn hier war deutlich die Wirkung der Gegenwart und Macht des einen Gemüts erkennbar. Die Wahrheit, das Gute, hatte gesiegt. Wer lernt, in allen Lebenslagen das sogenannte Böse mit Gutem zu überwinden, erntet geistiges Wachstum. In diesem Falle war das Wachstum durch Stillesein, durch liebevolles Schweigen, errungen worden, zusammen mit Demut und Lieben, wie unser Meister es lehrte.
Durch die geistigen Wahrheiten der Christlichen Wissenschaft lernt der Wissenschafter begreifen, daß es nur ein Gemüt gibt, das alle Menschen in sich einschließt, alle regiert und alle erhält. Wo bleibt da noch Raum für irgend etwas, das Gott unähnlich ist? Daß das Böse unwirklich ist, ist die einzigartige Entdeckung der Christlichen Wissenschaft. Noch eine weitere Lehre empfing die Verfasserin aus diesem gesegneten Erlebnis. Die Frage drängte sich ihr auf: „Warum wählte der Irrtum gerade mich zu seinem Opfer?“ Wir lernen in der Wissenschaft, daß alles, was wir versäumen, den christlich-wissenschaftlichen Regeln gemäß zu berichtigen, in unserer Erfahrung erneut auftreten wird.
Sie erinnerte sich plötzlich, daß jemand abfällig über diesen Nachbarn gesprochen hatte, und anstatt dies sofort abzuweisen und im Bewußtsein zu berichtigen, hatte sie die Bemerkungen achtlos übergangen. Sie erkannte nun, daß dieses Versäumnis richtig gestellt werden mußte, um in Segen verwandelt zu werden. Und welch herrlicher Lichtblick erschloß sich ihr nun aus diesem Geschehen! Das gesegnete Schweigen, welches wir durch die Christliche Wissenschaft verstehen lernen, ist das besondere Vorrecht des aufrichtigen Suchers nach der Wahrheit und es trägt geistige Kraft in sich.
Die folgende Strophe aus einem Gedicht von Mrs. Eddy zeigt die Übereinstimmung mit dem hier Dargelegten (Gedichte, S. 6):
„Nimm unter Deine Flügel uns,
Im Geist vereint und gleich,
Wie Brudervögel, singend leis,
Sich wiegen im Gezweig.
Der Pfeil, der wund die Taube macht,
Schnellt nicht von dem, der liebt und wacht.“
