Jeden Sommer verbrachte Johanna die Ferien mit ihren Eltern auf dem Lande, mit Tante Johanna und Onkel Ludwig in ihrem Sommerhaus am Ufer eines schönen Sees. Onkel Ludwig lehrte Johanna schwimmen und rudern, die vielen Vögel, die sie in den Wäldern sah, mit Namen nennen, und auch die verschiedenen Bäume und wilden Blumen zu unterscheiden. An Regentagen las die Tante ihr Geschichten vor.
Im Winter besuchte Tante Johanna die kleine Johanna und ihre Eltern in der großen Stadt, wo sie wohnten. Einen dieser Besuche konnte Johanna nie vergessen. Die Tante war auf einmal ganz anders. Wenn sie lächelnd auf ihre kleine Namensschwester herabschaute, leuchteten ihre Augen, und Johanna fühlte sich froh und glücklich bis tief ins Innerste, obwohl sie nicht recht wußte warum.
Am Morgen nach der Ankunft der Tante, klopfte Johanna leise an die Tür des Fremdenzimmers. Ein fröhliches „Guten Morgen” und ein „Komm herein“ war die Antwort. Die Tante saß an einem Schreibtisch und hatte offene Bücher vor sich liegen. „Dieses“, erklärte sie, „ist die Bibel, und das andere ist ,Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift' von Mary Baker Eddy. Und dies“, fügte sie hinzu, „ist das Christlich-Wissenschaftliche Vierteljahrsheft. Es enthält die wöchentlichen Lektionspredigten, die die Christlichen Wissenschafter täglich studieren. Weißt du, Liebling“, fuhr sie fort, „ich war sehr krank, und die Ärzte konnten mir nicht helfen. Doch als ich diese Bücher las, wurde ich gesund.“
Johanna lauschte aufmerksam, dann fragte sie: „Glaubst du, daß sie mich von Kopfschmerzen heilen könnten?“
„Gewiß Liebling, ich bin sicher, daß die Christliche Wissenschaft dich heilen kann. Und jetzt werde ich die Lektion lesen. Willst du zuhören?“ Johanna wollte sie gerne hören.
Das Thema der Lektion für die Woche war: „Gott, der Erhalter des Menschen.“ Tante Johanna erklärte, daß Gott nicht nur seine Schöpfung vollkommen macht, sondern daß Er sie auch so erhält und vor allem Bösen bewahrt. Die Lektion enthielt die Geschichte von Daniel in der Löwengrube. Johanna hatte den Teil besonders gern, wo es heißt (Dan. 6:22, 23): „Daniel aber redete mit dem König: Der König lebe ewiglich! Mein Gott hat seinen Engel gesandt, der den Löwen den Rachen zugehalten hat, daß sie mir kein Leid getan haben.“ Sie lauschte voll Interesse, als die Tante las (Ps. 35:4, 5): „Es müssen zurückkehren und zu Schanden werden, die mir übelwollen. Sie müssen werden wie Spreu vor dem Winde, und der Engel des Herrn stoße sie weg.“
Johanna schenkte dem Teil der Definition von „Engeln“ in „Wissenschaft und Gesundheit“ wo es heißt (S. 581): „Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen“ besondere Aufmerksamkeit. Und als die Tante weiterlas (ebd., S. 392): „Steh Wache an der Tür des Gedankens. Wenn du nur solche Schlüsse zugibst, wie du sie in körperlichen Resultaten verwirklicht zu sehen wünschst, dann wirst du dich harmonisch regieren“, unterbrach Johanna und sagte: „Ich weiß was ein Wächter ist. Es ist einer, der die Leute hereinläßt.“
„Ja, Liebling“, erwiderte die Tante, „und wir sind alle Wächter, die die Tür zu unserem Denken bewachen; wir dürfen sie nur den guten Gedanken öffnen, den Engeln, die von Gott kommen: Gedanken der Liebe und des Gehorsams, der Selbstlosigkeit und Freundlichkeit, der Gesundheit und Zurfriedenheit.“
„Ja, und wir müssen die Tür vor den bösen Gedanken zumachen, die uns sagen wollen, wir sollten böse und unartig sein und nicht unsere Spielsachen und unsere Bücher und unser Fahrrad mit unseren Spielgefährten teilen“, fügte Johanna hinzu.
Dann sprachen sie von dem Engelsgedanken, der den Löwen das Maul zuhielt. Johanna nahm an, daß es Liebe war, denn Daniel war dem König nicht böse darum, daß er ihn in die Löwengrube hatte werfen lassen, sondern sagte: „Der König lebe ewiglich!“ Die Tante versicherte ihr, daß Gedanken der Liebe immer die Furcht, den Zorn und die Selbstsucht austreiben, denn die guten Gedanken allein sind wirklich und mächtig. Sie kamen zu dem Schluß, daß Gott stets seine Engelsgedanken aussendet, um uns zu helfen; daß wir sie aber nur dann hören, wenn wir still genug sind.
Spät an dem Abend, als schon alles ruhig geworden war, hörte Tante Johanna jemanden weinen. Es war die kleine Johanna, die aufgewacht war und sich nicht wohl fühlte. Die Tante nahm ihre Bücher, ging leise in das Zimmer der Kleinen und setzte sich an ihr Bett. „Johanna, Liebling, laß uns unsere Gedankentüre den Engeln Gottes öffen, und sie werden dich heilen.“ Sie wartete einen Augenblick und fuhr dann fort: „Gott ist die Liebe, und Er ist Alles-in-allem. Er hat dich lieb und sendet dir nur Gutes.“
Dann las sie Mrs. Eddys Aufsatz in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ betitelt „Engel“, der mit den folgenden Worten beginnt (S. 306): „Wenn Engel uns besuchen, so hören wir nicht das Rauschen der Flügel, noch fühlen wir die federweiche Berührung einer Taube; doch wir erkennen ihre Gegenwart durch die Liebe, die sie in unserem Herzen erwecken.“ Ehe die Tante zu Ende gelesen hatte, war Johanna fest eingeschlafen.
Sie wachte nicht auf, bis die Strahlen der Morgensonne auf ihrem Bette tanzten. Sie war vollkommen gesund. Sie konnte es kaum glauben; denn früher, wenn sie manchmal in der Nacht krank wurde, mußte sie immer den ganzen nächsten Tag im Bett bleiben. Sie lief schnell die Treppe hinab, um ihrer Mutter zu erzählen, was vorgefallen war.
Als Tante Johanna zum Frühstück kam, hatte sie ein Päckchen in der Hand. Es enthielt ein Exemplar von „Wissenschaft und Gesundheit“. An dem Tage verbrachte Johannas Mutter viele Stunden mit dem Lesen des neuen Buches. Am folgenden Sonntag ging ein strahlendes kleines Mädchen mit einer Bibel und einem Lehrbuch unter dem Arm zur christlich- wissenschaftlichen Sonntagsschule, wo sie mehr von der Christus-Wahrheit hörte, die sie geheilt hatte.
Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes. — Markus 10: 14.