“Ihr müsset von neuem geboren werden“ (Joh. 3:7). Zweifellos ist niemals eine umwälzendere Wahrheit geäußert worden. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Nikodemus, dem Christus Jesus diese Worte sagte, verwirrt war. Spätere Generationen haben die von Unwissenheit zeugende Frage des Nikodemus wiederholt (Vers 4): „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“
Bei der Betrachtung dieser Frage ist es hilfreich, zunächst einmal einen Blick auf die besonderen Umstände zu werfen, in die der sterbliche Mensch bei seiner Geburt scheinbar hineingeboren wird. Hier ist ein neues Kindlein angekommen. Es ist — so bezeugen die materiellen Sinne — besonderen Eltern geboren worden, die einer bestimmten Nationalität und Rasse angehören und ein bestimmtes Glaubensbekenntnis, einen bestimmten Lebensstandard, sozialen Stand und einen persönlichen Charakter haben. Es wird sofort als ein Junge oder ein Mädchen klassifiziert, als von normaler Gestalt oder mit Mißbildungen geboren, als gesund oder kränklich, und die Erwartungen, die sich so für seine Zukunft ergeben, werden auf diesen Augenschein der materiellen Sinne gegründet.
Mit der Zeit wird aus dem Sterblichen ein erwachsener Mensch mit einer Reihe von Grundsätzen, Gewohnheiten, Idealen und Vorurteilen, die zum überwiegenden Teil durch ererbte Veranlagungen oder Umwelteinflüsse geformt wurden, durch die Art der Ausbildung, die er empfangen, und durch die Erfahrungen, die er gemacht hat.
Das menschliche Leben ist so verschiedenartig, daß es selbst bei Nachbarn, die in derselben Straße wohnen, vorkommen kann, daß einer des andern jeweilige politische Ansichten, soziale Gepflogenheiten und Vorstellungen von einem „guten Leben“ fast unverständlich findet.
Wie traurig wäre es, wenn das ein echtes Bild von der Wirklichkeit darstellte — Menschen, selbst durch ihre Vorstellungen vom Guten, untereinander entzweit! Der Einzelmensch als ein winziger Stecknadelknopf von Materie mit einem kleinlichen Gemüt, das von seinen eigenen Erfahrungen innerhalb der engen Grenzen persönlicher Veranlagung und bestimmter Gruppengewohnheiten beeinflußt ist.
Selbstverständlich ist dieses Bild selbst vom menschlichen Standpunkt aus nicht ganz zutreffend. Wohlwollen, ehrliche Aufgeschlossenheit und immer zunehmende Informationsquellen tragen unaufhörlich dazu bei, die Schranken niederzureißen, die die Menschen voneinander trennen. Überall gelingt es einsichtigen Menschen, bis zu einem, gewissen Grade die Vorurteile ihres Volkes, ihrer Gruppe und ihrer Gesellschaftsschicht zu überwinden. Doch solange wir das menschliche Bild betrachten, in dem sich Gutes und Böses als Wirklichkeit verquicken, werden wir wahrscheinlich schnell den Mut verlieren, weil nur sehr langsame Fortschritte gemacht werden in dem Niederreißen der Schranken, die immer noch in unserem Denken und in dem Denken anderer zurückgeblieben sind. Was augenblicklich inmitten der sich drängenden Probleme der heutigen Zeit erforderlich ist, ist eine völlig neue, umwälzende Einstellung gegenüber dem Problem, das allumfassende und unbegrenzte Gute zu demonstrieren.
„Ihr müsset von neuem geboren werden.“
Sich gänzlich von dem Augenschein der materiellen Sinne abzuwenden und auch nur einen Lichtblick von Gott als dem einzigen Leben des Menschen zu erhaschen heißt, den Beginn der neuen Geburt zu erfahren, von der unsere Führerin Mrs. Eddy erklärt (Vermischte Schriften, S. 15): „Sie beginnt mit Augenblicken und geht in Jahren weiter.“
„Von-neuem-geboren-werden“ bedeutet, nicht mehr von der Basis aus zu denken, daß es eine Vielzahl unvollkommener menschlicher Gemüter gibt, sondern von der Basis des einen vollkommenen göttlichen Gemüts aus, dessen unendliche geistige Schöpfung — der Mensch und das geistige Universum — völlig gut ist. Es bedeutet, um mit den Worten des Apostels Paulus zu sprechen, anzufangen, den alten Menschen abzulegen und den neuen Menschen anzuziehen — das heißt, den Menschen, der zwar neu ist für den materiellen Sinn, doch zeitlos in seiner Präexistenz für den geistigen Sinn. Es bedeutet, in immer zunehmendem Maße unsere Wesenseinheit mit Gott, dem göttlichen Prinzip des Seins, als Seine Widerspiegelung, zu entdecken, und damit unsere harmonische und intelligente Beziehung mit jedem anderen Ausdruck des wirklichen Seins. Es heißt, in wissenschaftlicher Weise verstehen zu lernen, wie wir Liebe zum Ausdruck bringen können, weil es bedeutet, Einheit als die der Schöpfung Gottes zugrunde liegende Tatsache zu entdecken.
Warum ist die Menschheit so abgeneigt, sich von den Gefahren und Täuschungen des materiellen Daseins abzuwenden und so den unbeschreiblichen Frieden und die unbeschreibliche Freude des geistigen Lebens zu finden, mit den reichen Segnungen, die von ihm zu allen Menschen ausgehen? Der Grund hierfür liegt darin, daß dieses Sich-Abwenden das völlige Aufgeben alles dessen erfordert, was sterblich ist — das Aufgeben jener endlichen Vorstellung von Selbstheit, die sich an falsche Freuden und Anmaßungen und persönliche Meinungen klammert.
Nur wenige Menschen erleben die neue Geburt ohne einen inneren Kampf oder vielleicht sogar eine innere Qual, denn die neue Geburt erfordert das Aufgeben vieler langgehegter und tief eingewurzelter menschlicher Überzeugungen; doch jeder Schritt vorwärts, mit dem wir diese hinter uns zurücklassen, führt zu einem befreienden Erwachen zu einer erweiterten Auffassung von Freiheit, zu einem volleren Leben der Genüge und einer innigeren Verbundenheit mit dem Guten. Die Geburtswehen des persönlichen Sinnes stellen nur die Anzeichen seines völligen Verschwindens vor den sich entfaltenden Tatsachen des geistigen Seins dar.
Zuweilen mögen sich die Augenblicke der geistigen Wiedergeburt, von denen Mrs. Eddy spricht, in einem plötzlichen Aufleuchten heilender Inspiration zeigen. Sehr oft mögen die Jahre, in denen sich unsere wahre Selbstheit allmählich entfaltet, viel Geduld und Mut von uns erfordern, während wir auf unserem Wege voranschreiten, und der alte Mensch — die angebliche sterbliche Selbstheit — hartnäckig für seine eigenen Annahmen und Neigungen streitet. Doch wenn wir erst einmal in unserem Innern der Offenbarung Raum gegeben haben, daß die wahre Selbstheit völlig getrennt von materieller Geburt und materiellen Umständen existiert, sind wir des Sieges sicher.
Wenn die Christliche Wissenschaft auch zeigt, daß Leiden ein Irrtum des persönlichen Sinnes ist, der verschwindet in dem Maße, wie jener Sinn um der Anerkennung der wahren geistigen Selbstheit willen aufgegeben wird, so beharrt sie doch mit unnachgiebiger Strenge auf ihrem Standpunkt, daß die Sterblichkeit selbst jeglicher Macht entbehrt, sich selbst zu erlösen.
Keine einzige der sieg- und segenbringenden Erklärungen Mrs. Eddys über den zu Gottes Bild und Gleichnis erschaffenen Menschen kann für den nicht wiedergeborenen sterblichen Menschen geltend gemacht werden; obwohl das Wunder der Wahrheit darin besteht, daß sie selbst die sterbliche Auffassung vom Dasein erneuert und segnet. Die Wissenschaft macht der menschlichen Angewohnheit, die nur zu gern durch charakterliche Veranlagung bedingte krankhafte Neigungen oder Abneigungen sowie auch in ihrem Starrsinn unbeugsame menschliche Meinungen als einen Bestandteil unserer Identität ansieht, kein Zugeständnis irgendwelcher Art.
Es ist bezeichnend, daß unsere Führerin selbst diese Erfahrung von einer neuen Geburt durchmachte. Zugleich mit dem ersten Lichtblick, den sie von Gott als dem einzigen Leben des Menschen erhaschte, kam auch das Geheiß, die persönliche, begrenzte Vorstellung, die sie von sich selbst hatte, aufzugeben — ebenso wie heute noch ein ähnliches Geheiß an jeden einzelnen von uns ergeht. Sie erkannte, daß nur Christus Jesus, unser vollkommener Beispielgeber, auf Grund der wunderbaren Begleitumstände seiner Geburt, so frei von der Vorstellung eines sterblichen Lebens war, daß das völlig Geistige von Anfang an das völlig Natürliche für ihn war.
In ihrem Werk „Rückblick und Einblick“ schreibt Mrs. Eddy (S. 26): „Jesus von Nazareth war ein natürlicher und göttlicher Wissenschafter. Er war dies schon, ehe die materielle Welt ihn sah. Er, der eher denn Abraham war und der Welt eine neue, die christliche, Zeitrechnung gab, war ein Christlicher Wissenschafter, der keiner Entdeckung der Wissenschaft des Seins bedurfte, um den Augenschein zurückweisen zu können. Doch für die, die vom Fleische geboren sind, muß die göttliche Wissenschaft eine Entdeckung sein.“
Sollten wir je versucht sein zu murren, weil der Kampf so schwer zu sein scheint, ehe wir imstande sind, den persönlichen Sinn auf dem Altar der Allheit Gottes niederzulegen, so können wir neue Stärke finden durch die folgenden ergreifenden Worte unserer treuen Führerin (Anfangsgründe der Göttlichen Wissenschaft, S. 17): „Die Entdeckerin dieser Wissenschaft könnte von Zaghaftigkeit, Mangel an Selbstvertrauen, Freundlosigkeit, Mühe, Seelenangst und Siegen berichten, angesichts derer sie einer wundersamen Erleuchtung als Halt bedurfte, als sie die ersten Schritte in dieser Wissenschaft unternahm.“
Jeder von uns muß heute, selbst wenn er durch das Beispiel Jesu und die große Entdeckung Mrs. Eddys in unschätzbarem Ausmaß gesegnet worden ist, doch für sich selbst herausfinden und demonstrieren, was diese beiden Menschen schon so klar dargelegt haben: den vollkommenen Menschen und das vollkommene Universum, wie das göttliche Gemüt sie erschaffen hat. Diese zu immer neuen Erlebnissen führende Erfahrung ist in der Tat eine neue Geburt in das grenzenlose Gute hinein.
Diese neue Geburt schließt nicht ein leichtfertiges Auf-Sich-Beruhen-Lassen der Probleme der Welt in sich, sondern eine fortschreitende Heilung derselben, denn sie greift all die Befürchtungen und Torheiten, die Bosheit und das Mißverstehen, die mit einer endlichen Vorstellung vom Menschen verbunden sind, an der Wurzel an. Dadurch, daß wir unseren Blick zu der befreienden Erkenntnis vom wirklichen Menschen — im individuellen wie im allgemeinen Sinne — erheben, als dem von aller Ewigkeit her bestehenden Kind der allmächtigen Liebe, werden wir durch die neue Geburt dazu geführt, alle rechten menschlichen Bestrebungen verständnisvoll zu unterstützen; sie lehrt uns weiter, all den kämpfenden Menschenkindern mit barmherziger Liebe zu begegnen, und befähigt uns, „alle Übel, die unseres Fleisches Erbteil“ sind, zu heilen.
Eine so tiefgehende Umwälzung kann nicht zum Stillstand kommen, bis das Reich Gottes auf Erden aufgerichtet ist. So muß die ganze Schöpfung „von neuem geboren“ werden, oder mit anderen Worten, in der ganzen Vollkommenheit ihrer Präexistenz entdeckt werden.
