In dem Gesetz der Heiligkeit finden sich unter anderem diese Vorschriften (3. Mose 19:13, 18): „Du sollst deinem Nächsten nicht unrecht tun noch ihn berauben... Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Sind diese Gesetze nur um unseres Nächsten willen oder sind sie auch um unseretwillen niedergelegt worden? Ganz sicher um unseres Nächsten willen sollten wir ihn lieben und ihm keinen Schaden zufügen; aber es ist auch für unser eigenes Wohlergehen notwendig, daß wir im Umgang mit unseren Mitmenschen aufrichtig sind.
In „Wissenschaft und Gesundheit“ warnt uns Mrs. Eddy (S. 449): „Das Unrecht, das man einem andern zugefügt hat, fällt schwer auf einen selbst zurück.“
Sowohl das moralische wie auch das geistige Gesetz fordert ein Wiedergutmachen für das einem anderen zugefügte Unrecht. Mose verfügte (2. Mose 22:5 [6]): „Wenn ein Feuer auskommt und ergreift die Dornen,... so soll der wiedererstatten, der das Feuer angezündet hat.“ Wir können nicht leichtfertig über ein Unrecht hinweggehen, das wir einem andern absichtlich oder unabsichtlich zugefügt haben.
Mrs. Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 11): „Das moralische Gesetz, dem das Recht zusteht, freizusprechen oder zu verurteilen, fordert stets ein Wiedergutmachen, ehe die Sterblichen hinaufrücken können.“ Die göttliche Liebe versieht uns stets mit den Mitteln und der Gelegenheit, das Unrecht wiedergutzumachen; und wenn das liebevoll und bereitwillig geschieht, so schwindet das Unrecht in Vergessenheit.
Man kann der Verantwortung für unrechtes Handeln nicht mit der Entschuldigung entgehen, daß man von einem anderen falsch beeinflußt wurde. Jeder einzelne ist für seine Gedanken und Handlungen selbst verantwortlich. Niemand braucht aus irgendeinem Grunde dem Gesetz Gottes, der Liebe, ungehorsam zu sein. Die Bibel ermahnt uns (Spr. 1:10): „Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht.“ Jedem einzelnen ist die Macht der geistigen Selbstbestimmung verliehen worden. Um das Gute in seiner eigenen Erfahrung zu erleben, muß man den Entschluß, gut zu sein, selbst betätigen.
Der Versuch, unrechtes Handeln durch Vernünfteln zu erklären oder zu rechtfertigen, ist Selbstbetrug, und kann, wenn man daran festhält, die geistige Fähigkeit, zwischen dem Rechten und Unrechten zu unterscheiden, völlig verdunkeln. Unrechte Handlungen zugeben und sie berichtigen — wenn es sich um Unrecht handelt, das gutgemacht werden kann — und den falschen Stolz aus dem Wege räumen, diese Schritte sind unerläßlich, wenn man weiterkommen will. Reue und Umwandlung bringen geistige Erneuerung und Neuheit des Lebens.
Wenn wir uns vom Unrechttun befreien, befreien wir uns auch davon, daß uns Unrecht angetan wird. In der Unschuld liegt Sicherheit. Daniel erklärte die Tatsache, daß er gegen das Unheil in der Löwengrube gefeit war, durch die Unschuld seines Denkens. Wenn wir selbst rein sind, kann ein sogenanntes Unrecht keinen Einlaß zu unserem gedanklichen Heim finden und kann sich daher nicht mit uns identifizieren.
Das Böse hat keine Macht, sich auf uns zu projizieren. Wenn wir es nicht durch Furcht oder Groll einlassen, fällt es durch seine eigene Schwere und wird so im Keime erstickt. Da die unendliche Liebe allen Raum erfüllt, kann das Böse keinen Raum einnehmen. Es gibt in Wirklichkeit keinen Ort, von dem das Böse ausgehen kann.
Wenn wir aufhören, an die Wirklichkeit sogenannten Unrechttuns oder eines sogenannten Übeltäters zu glauben, glauben wir auch nicht mehr, daß uns Unrecht getan werden kann oder getan wird. Der Mensch Gottes, Sein Bild und Gleichnis, ist gefeit gegen alle bösen Absichten und allen Schaden. Wenn wir liebevoll denken, liebevoll handeln und die Liebe betätigen, empfinden wir, wie wir selbst sowie auch unsere Nächsten von der Liebe umfangen sind. Selbst wenn jemand eine falsche Vorstellung von uns hegt, oder uns scheinbar Unrecht getan wird, so kann dies unser Denken doch nicht traurig stimmen, verdunkeln oder irreleiten, wenn wir in der Liebe gegründet sind. Wo eine beachsichtigte Beleidigung keinen Widerhall findet, kann sie auch keine Wirkung haben.
In ihrem Werk „Vermischte Schriften“ rät uns Mrs. Eddy liebevoll (S. 12): „Wenn dir schlimmes Unrecht widerfahren ist, vergib und vergiß.“ Vergebung führt zu geistiger Milde und geistiger Stärke. Wenn wir uns des Irrtums immer wieder erinnern, ist er nicht wirklich vergeben. Wenn ein sogenanntes Unrecht nur noch ein abstrakter Begriff für uns wird und der wahre geistige Begriff von unserem Nächsten seinen Platz in unserem Denken einnimmt, dann können wir wissen, daß wir vergeben haben.
Die Vergebung ist eine positive christliche Forderung. Als Petrus Jesus fragte, ob man seinem Bruder siebenmal vergeben solle, erwiderte Jesus (Matth. 18:22): „Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ Mit anderen Worten, wir müssen immer vergeben. Wir müssen niemals aufhören zu vergeben, niemals aufhören, den Irrtum von der Person zu trennen und den Irrtum als unwirklich sehen, solange er da zu sein scheint. Das ist eine weise Forderung. Sie errettet die, die sie befolgen, von der Pein verletzter Gefühle und des Selbstbedauerns und befähigt uns, wahrhaft unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst.
Eine der Forderungen Jesu, unseren Nächsten zu lieben, ist die folgende: wenn er uns nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, gehen wir zwei Meilen mit, das heißt, wir geben unserem Bruder jede Gelegenheit, selbst seine Erlösung auszuarbeiten und sich zu bewähren. Wir werden erkennen, wann wir weit genug gegangen sind. Mit der Vergebung erleben wir Gelassenheit, Frieden und Ausgeglichenheit, eine Ruhe, die aus dem Verständnis kommt, daß das Böse in Wirklichkeit niemals Gegenwart, Macht oder Wirksamkeit hatte, und daß Verrat, Betrug oder Eigensinn die Treue und Beständigkeit der Idee der Liebe niemals angetastet haben.
Die Christliche Wissenschaft fordert von ihren Nachfolgern nicht mehr, als sie zu leisten vermögen; sie fordert von ihnen jedoch alles, was sie tun können. Seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist etwas, was jeder zu tun vermag. Wir können dies nicht in passiver Weise tun. Unseren Nächsten lieben, schließt in sich, daß wir einen rechten geistigen Begriff von ihm hegen. Die geistige Liebe fordert, daß wir an diesem rechten Begriff von unserem Nächsten festhalten, ganz gleich in welcher Weise das Böse ihn zu benutzen beansprucht.
Wir sind immer bereit, einem Freund oder einem nahen Verwandten beizustehen, wenn er krank wird. Warum nicht, wenn die Sünde angreift? Beides sind Lügen über den Menschen, und beide müssen vor der klaren Erkenntnis der Allmacht und Allgegenwart des Guten verschwinden.
Die geistige Liebe fordert nicht nur, daß wir unseren Nächsten lieben, sondern auch, daß wir erkennen und anerkennen, daß unser Nächster uns liebt. Wir müssen einem anderen dieselbe Fähigkeit zu lieben und dasselbe Verlangen zu lieben zuerkennen, die wir für uns in Anspruch nehmen. In der Wirklichkeit des Seins kommt unseres Nächsten Liebe zu uns unserer Liebe zu ihm gleich; und wir wissen, daß wir in liebevoller Eintracht und Zusammenarbeit beieinander weilen und uns gegenseitig achten, erheben und stärken.
So ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? ...Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist. — Matthäus 5:46, 48.
