Wenn wir uns einem unharmonischen Zustand oder einer unharmonischen Situation gegenübergestellt sehen, die der Berichtigung bedarf, dann richten wir häufig aus Mangel an geistigem Verständnis unser Denken und unsere Bemühungen auf die Disharmonie, die gewandelt oder geheilt werden muß. Doch in der Christlichen Wissenschaft erkennen wir, daß unser vordringliches Bedürfnis nicht so sehr darin besteht, uns auf die Überwindung des materiellen Zustandes zu konzentrieren, als vielmehr darin, unsere Aufmerksamkeit ganz der Erlangung eines tieferen Verständnisses von Gott, der göttlichen Liebe, zuzuwenden, wie auch der Anwendung dieses Verständnisses.
Oft ertappen wir uns dabei, daß wir uns fragen, warum uns ein solcher Zustand überkommen hat und wir ihn nun ausarbeiten müssen, oder warum sich die Lösung so lange hinauszuziehen scheint. Sollten wir uns nicht vielmehr fragen, wie groß die Bekundung der Liebe in unserem Denken und Handeln gegenüber den Menschen in unserem Heim, im Büro und in der Kirche war — wieviel Liebe haben wir wirklich im Leben zum Ausdruck gebracht? Allein die göttliche Liebe ist es, die befreit.
Es ist uns versichert worden, daß Gott die Liebe ist, und daß wir, da die Urform nur in dem Ausdruck finden kann, was ihr ähnlich ist, wissen können, daß Gott allen Seinen Kindern ständig nur das Gute schickt. Dennoch müssen wir unser Teil beitragen, wenn wir die Liebe in unser tägliches Leben bringen und Freiheit von Krankheit und Kummer finden wollen.
Wenn wir nicht beständig all das zum Ausdruck bringen, was das Wort „Liebe“ in sich schließt, wie Freundlichkeit, Geduld, Vergebung und Barmherzigkeit — dann legen wir nicht Zeugnis ab für Gott und können uns auch nicht rechtmäßig als Seine Kinder bezeichnen.
Wenn wir in einer kritischen, grollenden, rachsüchtigen Stimmung sind, wie können wir dann erwarten, die unbegrenzt ausströmenden Segnungen der Liebe in unser Leben zu bringen, selbst wenn wir beständig erklären, daß die Liebe die einzige Macht ist und uns mit allem versorgt, dessen wir bedürfen? Wenn also Gottes Liebe und Fürsorge für uns in die Erscheinung treten sollen, dann müssen wir nach besten Kräften gemäß unserem höchsten Verständnis von der Liebe leben.
Man würde sich doch nicht in einen Raum mit heruntergelassenen Jalousien einschließen und dann erwarten, die Wärme und das Licht der Sonne zu genießen, selbst wenn man dabei immer wieder erklärte, daß die Sonne ja scheint, daß die Sonne gut ist, und so weiter. Nein, wir würden wissen, daß wir, um die Sonne in all ihrer Schönheit und in ihrem Segen genießen zu können, notwendigerweise die Jalousien weit öffnen und das Sonnenlicht hereinströmen lassen müßten.
Ebenso ist es mit unserem Denken. Wir müssen unsere mentalen Jalousien weit öffnen, indem wir die Liebe der göttlichen Liebe zum Ausdruck bringen, alle in der einen Liebe einschließen, weil wir wissen, daß wir in Wirklichkeit die Kinder des einen gemeinsamen Vater-Mutter Gottes sind. In ihrem Werk „Vermischte Schriften“ gibt uns Mrs. Eddy ein Beispiel in den folgenden Worten (S. 312): „O möge die Liebe, die ausgesprochen wird, empfunden und so gelebt werden, so daß wir — in der Waage Gottes gewogen — nicht zu leicht erfunden werden.“
Wenn wir die Liebe wirklich in unserem Leben zum Ausdruck bringen, so weigern wir uns, in unserem Bruder irgend etwas zu sehen, das nicht gottähnlich ist, und weigern uns daher, irgend etwas als zu ihm gehörig anzunehmen, das uns veranlassen könnte, etwas Fehlerhaftes in ihm zu finden, ihn zu kritisieren, ihm zu widerstreben, ihn zu hassen oder zu verurteilen. Wir sollten uns in acht nehmen, daß wir nicht dem Eigenwillen, dem Selbstbedauern, der Selbstrechtfertigung und dergleichen Raum geben, sondern sollten dem Beispiel Christi Jesu nacheifern, der angesichts von Verachtung und Haß sagte (Luk. 23:34): „Vater vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Mit Recht ist gesagt worden: „Alles ist Liebe, aber alles ist Gesetz,“ und die Heilige Schrift sagt uns (Röm. 13:10): „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“ Wir verstehen unter dem Gesetz das, was schützt und leitet, wenn es befolgt wird, was aber nicht zu unseren Gunsten wirken kann, wenn es übertreten oder mißachtet wird.
Wie sorgsam sollten wir doch darauf bedacht sein, innerhalb der schützenden Arme des göttlichen Gesetzes der Liebe zu verweilen, und uns seine Segnungen, die Befreiung von Kummer, Krankheit und Unheil bringen, wirklich zu eigen zu machen. Wenn wir nicht lernen zu lieben, unterstützen wir unsere Kirche nicht, tragen wir nicht dazu bei, die große Entdeckung von der Wahrheit, die unsere Führerin machte, auszubreiten, und leben nicht gemäß der Christlichen Wissenschaft.
Daß der Lohn für den Gehorsam gegen das Gesetz der Liebe groß ist, ersieht man aus der Erfahrung von Joseph, wie sie in der Bibel berichtet wird. Er verdammte nie, er haßte nie, weder in Wort noch Tat vergalt er auch nur ein einziges Mal Gleiches mit Gleichem, als er als Sklave verkauft, ins Gefängnis geworfen, nicht beachtet und vergessen wurde. All sein Denken und sein Handeln war durch Liebe gekennzeichnet. So war es nur natürlich, daß jeder widrige Umstand in Erfolg und in einen Segen für ihn umgewandelt wurde, und schließlich wurde er der zweitmächtigste Mann im Staat nach dem König. Joseph bewies über jeden Zweifel hinaus, daß die Liebe allein befreit.
Ein junger Anhänger der Christlichen Wissenschaft hatte Gelegenheit, das befreiende Gesetz der Liebe zu beweisen, als er feststellen mußte, daß er auf seiner Arbeitsstelle ein Opfer der Umstände geworden war. Sein unmittelbarer Vorgesetzter wandte sich, scheinbar ohne jeden Anlaß, mit Feindseligkeit und Intoleranz gegen ihn. Zuerst überkam den Anhänger ein großes Gefühl der Machtlosigkeit; denn unter den gegebenen Umständen gab es für ihn kein Mittel zur Verteidigung.
Sehr bald erkannte er jedoch, daß das Problem auf keine andere Weise gelöst werden konnte, als allein durch Liebe; es wurde ihm klar, daß sich ihm ein Ausweg zeigen würde, wenn er die Angelegenheit durch Liebe überwinden würde. Getreulich kehrte er im stillen jede Bekundung eines Mangels an Liebe auf seiten seines Vorgesetzten um und vergegenwärtigte sich statt dessen, daß der Mensch der Gottesschöpfung nicht verdunkelt werden kann, selbst dann nicht, wenn das sterbliche Gemüt an solch eine Möglichkeit glaubt. Er erkannte, daß geradeso wie eine Fata Morgana nur eine optische Täuschung hinsichtlich physikalischer Gegenstände ist — das Bild eines zornigen, ungerechten und unvernünftigen Sterblichen eine falsche Vorstellung von dem wirklichen Menschen ist, der zum Bild und Gleichnis seines Vater-Mutter Gottes geschaffen wurde.
Das aufrichtige Verlangen auf seiten des Anhängers, in seinem Bewußtsein nur die Liebe walten zu lassen, führte zu einem grundlegenden Wandel in den Beziehungen zwischen ihm und seinem Arbeitgeber. Feindseligkeit und Intoleranz waren verschwunden; Wohlwollen und wahre Wertschätzung wurden bekundet. Die Fata Morgana von einem häßlichen und lieblosen Sterblichen hatte sich vollständig in ihr Nichts aufgelöst.
Wir sollten nicht über die Liebe theoretisieren, sondern vielmehr ihre Macht und Herrschaft in alle Einzelheiten unseres täglichen Lebens hineinbringen und so die folgenden Worte unserer Führerin beweisen (Vermischte Schriften, S. 113): „Die göttliche Liebe ist unsere Hoffnung, unsere Stärke und unser Schutz. Wir haben nichts zu fürchten, wenn Liebe am Steuer des Denkens steht, vielmehr werden wir uns aller Dinge auf Erden und im Himmel erfreuen.“
