„Und über das alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestigt, daß die da wollten von hinnen hinabfahren zu euch, könnten nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren“ (Luk. 16:26).
Ehe ich die Christliche Wissenschaft kennenlernte, pflegte ich oft lange und ernstlich über diesen Vers aus Christi Jesu Gleichnis von dem reichen Mann und dem Bettler Lazarus nachzudenken. Diese Bibelstelle war mir völlig unverständlich, und überdies hielt ich es für grausam, denen, die „in der Qual“ waren, jede Hilfe zu versagen. Erst als ich anfing, im Verständnis der wunderbaren Lehre der Christlichen Wissenschaft zu wachsen, wich die Spannung von mir, die ich beim Lesen dieses Abschnittes immer empfunden hatte.
Vorausschicken möchte ich, daß es in Wirklichkeit nichts gibt, das den Menschen von den Segnungen der Allgegenwart Gottes trennt. Gott und Seine Ideen existieren in einer Einheit, in der es weder eine Kluft noch eine Trennung gibt. Früher oder später muß alles Irrige und Falsche aus dem menschlichen Denken verbannt und völlig zerstört werden. Der Irrtum, der nicht mit dem Menschen identisch ist, muß in sein natürliches Nichts aufgelöst werden. In der Wissenschaft ist das Böse unwirklich, und es gibt keine Brücke, über die es den Menschen, das Bild und Gleichnis Gottes, erreichen kann. Gott, der Urquell allen wirklichen Seins, hat nichts geschaffen und kann nichts schaffen, das einem Ort der Qual gleichkäme. Der sogenannte Ort der Qual besteht nur für das Böse oder den Irrtum.
Es war ein weiter Weg von meiner kindlichen Auffassung von dieser zum Nachdenken anregenden Geschichte bis zu dem zuvor erwähnten Verständnis. Lange Zeit hindurch hatte ich befürchtet, daß ich, sollte ich einmal plötzlich sterben, wegen meiner Sünden selbst an einen solchen Ort der Pein kommen würde. Es war unsagbar schmerzlich zu denken, daß dann von da keine Brücke mehr zum Guten führen würde. Oft betete ich ernstlich zu Gott, Er möge mir doch Seine Engel senden, damit sie mich mein ganzes Leben hindurch auf dem richtigen Wege leiten würden. Dieses Gebet wurde erhört, als ich die Christliche Wissenschaft fand, die von unserer geliebten Führerin Mrs. Eddy offenbart wurde, und als ich begann, die Bibel selbst eingehender zu studieren. Doch es vergingen Jahre, und meine Furcht vor einem Ort der Qual blieb unverändert bestehen.
Vielleicht, so dachte ich, würde ich meine Furcht allmählich überwinden können. Doch das Sehnen, dieses scheinbar so schwierige Problem vollständig und harmonisch zu lösen, hat mich in all den Jahren nie ganz verlassen.
Als mir dann durch das Studium der Christlichen Wissenschaft klar wurde, was Gott für Seine geliebten Kinder tut, begann sich der Nebel oder die falsche Annahme, daß es einen Ort der Qual gebe, an den ich vielleicht würde gehen müssen, aufzulösen. Ich erkannte immer klarer, daß es nur eine Schöpfung geben kann, nur einen vollkommenen Ort, nämlich das Reich Gottes, in dem der Mensch ewiglich weilt. Als Jesus in der Wüste „vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn“ (Matth. 4:2). Der Teufel glaubte offensichtlich, es würde nicht schwer sein, Jesus an etwas glauben zu machen, das außerhalb der göttlichen Schöpfung läge, und so ungehorsam zu sein. Doch Jesus wies ohne Zögern die drei an ihn herangetragenen Versuchungen ab. Auf die letzte dieser Versuchungen erwiderte er: „Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: ‚Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen‘.“
Es mag oft so aussehen, als strauchele ein Mensch und wende sich von Zeit zu Zeit der Anbetung irdischer Güter und selbsterdachter Götter zu. Dennoch geht des Menschen Einheit mit Gott als Gottes geistiger Idee niemals verloren. Es mag Zeiten geben, in denen wir, wie von einer Wolke überschattet, das Empfinden haben mögen, als könnten wir den Weg zu Gott nicht sogleich finden. Doch das wahre Bewußtsein, das nur um die Dinge Gottes weiß, wird niemals verändert oder ausgelöscht. Die Materie mit all ihren Begleiterscheinungen ist stets ein falscher Anspruch und wird stets ein falscher Anspruch sein, ebenso wie die Lüge oder Schlange, die sogar im Paradies an Adam und Eva herantrat, um sie zu versuchen.
Furcht, Haß, Unzufriedenheit, Neid und dergleichen müssen natürlich aufgedeckt und dann zur Vergessenheit verbannt werden, um dort ihrer gerechten Verurteilung, der vollständigen Zerstörung, entgegenzugehen. Sie können den Menschen nicht auf immer zu dem Glauben verleiten, daß sie Wirklichkeit besäßen. Es muß notgedrungen eine Kluft zwischen dem Unwirklichen und der Schöpfung Gottes bestehen — eine Kluft, über die keine Brücke führt. Wie könnten Liebe und Haß, Wirklichkeit und Unwirklichkeit miteinander vereint werden oder das eine mit dem anderen in Verbindung stehen?
Auf Seite 205 ihres Werkes „Vermischte Schriften“ sagt Mrs. Eddy: „Die Glut der Reue scheidet zunächst in der Erfahrung der Sterblichen die Schlacken vom Gold; und die Umwandlung entfacht das Licht, das die Dunkelheit verscheucht.“ Und im zweiten Brief an die Korinther lesen wir (5:17): „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!“
Wenn sich dann in solchen Augenblicken der Nebel des sterblichen Denkens in unserem Bewußtsein zu lichten beginnt, erfassen wir in gewissem Grade die Herrlichkeit, die unser wirkliches Leben ausmacht. In dem Verhältnis, wie wir unsere geistige Arbeit tun, werden die bösen Elemente, die von Anfang an zur Zerstörung bestimmt sind, aus dem menschlichen Bewußtsein — aus unserer individuellen Erfahrung — ausgelöscht, und wir werden von ihrem quälenden Einfluß befreit.
Jesus verhieß uns den Tröster, der uns täglich helfen würde, menschliche Probleme richtig zu erkennen und zu lösen. Auf Seite 55 ihres Buches „Wissenschaft und Gesundheit“ sagt Mrs. Eddy: „Unter diesem Tröster verstehe ich die Göttliche Wissenschaft.“ Die Gedanken, die wir täglich durch ein planmäßiges Studium der Christlichen Wissenschaft aufnehmen, erweisen sich uns als Wegbereiter, mit deren Hilfe wir allen schwierigen Lebenslagen entgegentreten und so den Sieg über den Irrtum und die Furcht erlangen können.