In uns allen lebt das Verlangen nach einem ewigen Leben. Christus Jesus nennt die Verwirklichung dieses Verlangens das Himmelreich oder das Reich Gottes, und er verheißt uns, daß wir dieses Himmelreich erlangen können, wenn wir dem Kinde gleich werden, das er in seinen Armen hielt.
Viele Menschen finden, daß die Tage und Monate ihnen nicht genug Zeit lassen, um auch nur einen geringen Teil von dem zu tun, was sie vollbringen möchten. Und doch, woran es ihnen mangelt, ist nicht Zeit, sondern Befreiung von einem falschen Zeitbegriff. Was ihnen nottut, ist nicht eine Rückkehr in ihre Kindheit, sondern ein Annehmen jenes Gemeinguts der Kindheit: das Freisein von jeglichem Zeitbegriff und Zeitablauf. Im Kindergarten erscheint dem Kind ein Morgen wie ein endloses Arbenteuer. An einem strahlenden Sommernachmittag steht die Zeit still. Die Grillen zirpen, die Beeren hängen reif am Busch, und der süße Duft des Klees steigt von den Feldern auf. Ein Himmel für die, die reines Herzens sind!
Wenn aber das Eintreten der Reife die Jugend zerstörte, dann würde Jesus nicht betont haben, daß dauernde Jugend möglich, ja in unserem Leben für uns vorhanden ist. Da Jesus erkennen konnte, daß die Jugend, die nicht altert, eine gegenwärtige Tatsache unseres Lebens ist, dürfen auch wir uns in aller Demut anschicken, sie für uns zu beanspruchen. Mrs. Eddy schreibt im Vorwort ihres Buches „Vermischte Schriften“ (S. xiii): „Sicherlich, es gibt alte Herzen und eine nie alternde Jugend.“
Wo sollen wir beginnen diese unzerstörbare Jugend zu suchen? Doch wohl bei der Freude. Die Freude in unserem Leben würde nie getrübt werden, wenn wir verstünden, daß sie nichts mit einem Zeitablauf zu tun hat. Ein weiteres charakteristisches Merkmal der Jugend ist Selbstvergessenheit; und doch muß jedermann Selbstlosigkeit besitzen, um ein guter Lehrer, ein wirkungsvoller Redner oder ein Richter der Menschen zu werden. Wir würden so natürlich wie ein Kind sein, wenn wir so furchtlos wie ein Kind wären. Seine Bekundungen der Furchtlosigkeit, sei es Liebe, Vertrauen, Freundlichkeit, Freigebigkeit, Empfänglichkeit, Lebensfreude, Spannkraft — sie alle bestehen völlig unabhängig von der Zeit. Denken Sie an die Freimütigkeit eines Kindes, an seine Unerschrockenheit, seine bejahende Einstellung, seine Anpassungsfähigkeit und seinen Liebreiz! Diese Eigenschaften sind weder auf eine bestimmte Altersstufe noch auf einen bestimmten Zustand beschränkt. Sie stellen unsterbliche Ausdrucksformen des Gedankens dar. Sie sind die „Einfalt in Christo“ (2. Kor. 11:3), die für einen jeden von uns erreichbar ist. Als Naeman, jener große Krieger, von einem zu starken Ich-Bewußtsein und seinem Stolz geheilt wurde, ward sein Fleisch „wieder erstattet wie das eines jungen Knaben“.
Man versucht nicht, ein Kind nachzuahmen, um die guten Eigenschaften eines Kindes zu besitzen. Sonst könnte man vielleicht auf den Gedanken kommen, man müsse auf dem Fußboden sitzen und anfangen mit dem Baukasten zu spielen. Das Kind ist für seine unbefangene Güte nicht verantwortlich. Es ist einfach ein Ausdruck der göttlichen Güte, die durch es hindurchscheint. Wenn erwachsene Menschen so empfänglich und bereit für Inspiration wären wie ein Kind, dann ginge von ihnen das gleiche Strahlen aus. Wir müssen lediglich an unserem göttlichen Ursprung festhalten, um uns selbst zu finden, und zwar nicht als Nachahmer, sondern als wahrhaft ursprüngliche Denker.
Bei aller Würdigung dessen, was die Jugend tatsächlich zum Ausdruck bringt, können wir doch sagen, daß der Erwachsene sich der geistigen Eigenschaften des Kindes mehr bewußt ist als der Jugendliche selbst. Oft erstrahlt das Gesicht eines Lehrers in der christlich-wissenschaftlichen Sonntagsschule vom inneren Licht fortdauernder Jugend, während der Gesichtsausdruck der jungen Menschen in der Klasse so ausdruckslos sein mag wie eine Schale mit Milch.
Diejenigen, die die Stumpfheit des Alters abgelegt und die Natürlichkeit der Widerspiegelung als des Kindes Gottes angenommen haben, können den Unterricht der Sonntagsschule mit himmlischen Eingebungen beleben. Der Lehrer mag eine logische Ausarbeitung seiner Lektion für den Unterricht vorbereitet haben; wenn aber der Unterricht begonnen hat, spürt man den Atem der Intuition in der Klasse. Dann ist der Christus da und führt zu nie erträumten Ausblicken der Freude. „Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde“, sagte Christus Jesus, „daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart“ (Matth. 11:25).
Hier mag jemand fragen: „Hat denn die menschliche Reife in diesem himmlischen Plan keine Rolle zu spielen?“ Ganz gewiß hat sie das. Jesus war überzeugt, daß Nikodemus wiedergeboren werden konnte; tatsächlich wußte er, daß Nikodemus wiedergeboren werden mußte — aus Reinheit und Geistigkeit geboren — wenn er in das Himmelreich eingehen sollte. Und Jesus sagte zu seinen Jüngern, die in Begriff standen, die Wiedergeburt zu erleben (Matth. 19:28): „Ihr, die ihr mir seid nachgefolgt, werdet in der Wiedergeburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels.“
Da gibt es keine Kindheit, die der Wartung und Pflege bedarf. Da gibt es eine wunderbare Herrschaft — eine geistige Herrschaft — für jeden, der willens ist, sich der läuternden Erfahrung zu unterziehen, sich einzig und allein mit dem Kind Gottes, der Idee des Gemüts, zu identifizieren. Der Beweis von der Einheit des Gemüts durch die Wissenschaft führt zu klarem Urteilsvermögen, denn das Gemüt kennt weder Vergangenheit noch Zukunft, es kennt nur die unendliche Gegenwart.
Als Mrs. Eddy, unsere Führerin, im Alter von sechsundsiebzig Jahren von der unzerstörbaren Lebenskraft sprach, sagte sie zu einer ihrer Zweigkirchen (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 177): „Ich bin durchaus imstande, die Reise in ihre Stadt zu unternehmen, und wenn die Weisheit die Summe meiner Jahre auf achtzig ausdehnt (die mir bereits zugeschrieben werden), dann werde ich sogar noch jünger und der ewigen Mittagshöhe näher sein als jetzt, denn die wahre Erkenntnis und der wahre Beweis des Lebens besteht in dem Ablegen der Begrenzungen und dem Anlegen der Möglichkeiten und der Fortdauer des Lebens.“
