Ohne die Disziplin der Christlichen Wissenschaft [Christian ScienceSprich: kr’istjən s’aiəns.] denkt das menschliche Gemüt voller Bedauern oder Sehnsucht an die Vergangenheit zurück, sieht es voller Furcht oder Ungeduld der Zukunft entgegen und umgeht das Heute. Es beschwört vergangene Erlebnisse wieder herauf und brütet sehnsuchtsvoll über seinen Erinnerungen, oder es bewegt sich in einem Traumland der Zukunft und führt in der Einbildung Gespräche, von denen es viele wie eine bekannte Melodie, die man nicht loswerden kann, ständig wiederholt.
Dieses sogenannte Gemüt hofft vergeblich, den Erfolg des kommenden Tages sicherzustellen, ehe das Morgen zum Heute wird. Inzwischen vernachlässigt es den Tag, der bereits da ist; es schenkt ihm nicht die Aufmerksamkeit, die er rechtmäßig von uns fordert. Dann mögen Reibungen, Disharmonie und Krankheit Vorherrschaft beanspruchen.
Das undisziplinierte menschliche Gemüt könnte mit einer schlecht eingestellten Maschine verglichen werden. Seine Tätigkeit ist ungestüm und falsch berechnet und schließt viel Leerlauf ein. Sie ist entweder zu schnell oder zu langsam. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft [Christian Science], gibt in ihrem Buch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ das Heilmittel für diese schlechte Arbeitsweise, wenn sie sagt: „Wenn der Mechanismus des menschlichen Gemüts dem göttlichen Gemüt Raum gibt, dann werden Selbstsucht und Sünde, Krankheit und Tod ihren Stützpunkt verlieren“ (S. 176). Die Wissenschaft lehrt, daß Gott das eine und einzige Gemüt des Menschen ist.
Vor einigen Monaten, als das Thema der Lektionspredigt der betreffenden Woche im Vierteljahrsheft der Christlichen Wissenschaft lautete: „Gott der Erhalter des Menschen“, hatte ich die Freude, den „Mechanismus des menschlichen Gemüts“ zu berichtigen. Am Donnerstagmorgen, kurz nachdem ich mein tägliches Studium der Lektion aufgenommen hatte, blieb mein Denken bei einer wichtigen Sitzung hängen, die ich an jenem Nachmittag an meiner Arbeitsstätte zu leiten hatte. Die Tagesordnung für die Sitzung enthielt eine Aussprache und Abstimmung über ein neues Programm, das für meine Organisation von Bedeutung und weitreichenden Konsequenzen war.
Bald entdeckte ich, daß ich im Geiste die Sitzung leitete, eine Meinung vertrat und eine andere verdammte, Urteile über gewisse Persönlichkeiten fällte und abwechselnd freudig und furchterfüllt war. Zwei oder drei Teilnehmer im besonderen machten mir erhebliche Sorgen. Für fünf oder zehn Minuten wurde mein Denken durch diesen hypnotischen Wachtraum beschwert. Dann wurde meine Aufmerksamkeit durch verschiedene Bibelstellen, die auf Jakob und Esau Bezug hatten, gefesselt.
Weil Jakob Esau um das Geburtsrecht gebracht hatte, stellte er sich voller Furcht den verheerenden Zorn seines Bruders vor, dem er bei ihrer Begegnung ausgesetzt sein würde. Ehe sie jedoch zusammentrafen, erlebte Jakob im Pniel seinen siegreichen Kampf mit sich selbst. Nach diesem Kampf wurde er nicht mehr Jakob, sondern Israel genannt, denn der Engel sagte zu ihm: „Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist obgelegen“ (1. Mose 32:29[28]).
Als die zwei Brüder sich begegneten, geschah nichts von dem, was Jakob ursprünglich befürchtet hatte. Das göttliche Gemüt hatte den Mechanismus von Jakobs menschlichem Gemüt umgewandelt. Jakob hatte aufgehört, über eine ungewisse Zukunft zu grübeln, und hatte den Irrtum der Gegenwart gehandhabt. Als er „Gott von Angesicht“ sah (Vers 31[30]), war seine Seele genesen, und seine Gedanken über Esau machten einer höheren Auffassung Raum. Jakob und Esau trafen sich als wahre Brüder, nicht als Feinde.
Als ich über diese Stellen nachdachte, kam mir der Gedanke, daß Jakobs Kampf auch mein Kampf war. Was meine eigenes illusorisches, maschinenähnliches, menschliches Bewußtsein zu sein schien, das in einer sich selbst auferlegten Zeitspanne am Werk war, mußte der Freiheit der göttlichen Intelligenz Raum geben. Ich erkannte diesen Punkt sehr klar, und der hypnotische Wachtraum löste sich vollständig auf. Das Studium der Lektion nahm meine ganze Aufmerksamkeit gefangen, und ich verwendete keinen Gedanken mehr auf die Sitzung, die ich zu leiten hatte.
Die Sitzung später am Tage verlief ruhig und harmonisch. Es wurde keiner der Beschlüsse gefaßt, die ich in meinem Wachtraum vorausgesehen hatte. Bemerkenswert war, daß keinerlei persönliche Konflikte und persönliche Herrschaftsansprüche hervortraten. Ich fühlte das Allwirken der göttlichen Intelligenz und wußte, daß das sogenannte menschliche Gemüt nicht der beherrschende Faktor in dieser Sitzung war. Das vorgeschlagene neue Programm wurde mit einigen kleineren Änderungen, die seine Wirksamkeit erhöhten, einstimmig angenommen. Nach der Sitzung waren die Anwesenden allgemein voller Begeisterung; sie waren von einem Gefühl der Kameradschaft beseelt und dem Bewußtsein, etwas geleistet zu haben.
Woche für Woche erleuchten die Lektionspredigten das ganze Jahr hindurch das menschliche Bewußtsein in mannigfaltiger Weise mit der geistigen Wahrheit. Jedermann kann auf der festen Grundlage täglichen hingebungsvollen Studiums der Lektion erfolgreich die Nichtsheit jeder verwirrenden Illusion beweisen, die ein Teil seiner Erfahrung zu sein behauptet.
Jede Lektion spricht zu uns von der Wissenschaft des göttlichen Gemüts, das sich überall dem empfänglichen Gedanken entfaltet. Wenn wir zugeben, daß dieses unendliche Gemüt unser Gemüt und das Gemüt eines jeden Menschen ist, dann bewirkt das unwiderstehliche geistige Gesetz — das Gesetz Christi, der Wahrheit — unmittelbar unsere eigene Befreiung und die unserer Umgebung von dem menschlichen gefälschten Bild der Intelligenz und den dieses Bild begleitenden Annahmen von mehr als einem Gemüt, von Zeit und meßbaren Fähigkeiten; wie unsere Führerin sagt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 162): „Die Wirkung dieser Wissenschaft besteht darin, daß sie das menschliche Gemüt so aufrührt, daß es seine Grundlage verändert, von der aus es nun der Harmonie des göttlichen Gemüts Raum geben kann.“
Da Gott das einzige Gemüt ist, ist die Intelligenz des Gemüts unendlich. Sie drückt sich unaufhörlich durch die uneingeschränkten geistigen Fähigkeiten des individuellen geistigen Menschen aus, des einzigen Menschen, den es in Wirklichkeit gibt oder geben kann. Keine menschliche Lage, wie verwickelt sie auch sein und welche Anforderungen sie auch immer stellen mag, hat die Macht, unserer Anerkennung dieser Wahrheit zu widerstehen.
Da Gemüt Liebe ist, ist Intelligenz niemals mechanisch, kalt oder unzureichend. Sie verändert alle Zeitbegriffe und zeigt die Ereignisse in der wahren Perspektive des stets gegenwärtigen Jetzt, in dem das Gute die ewige Tatsache und das Böse eine nicht existierende Mythe ist. Während die göttliche Intelligenz unaufhörlich ihre durchdringende Wahrnehmungsfähigkeit und nie irrende Führung kundtut, werden Vergangenheit und Zukunft als falsche Begriffe erkannt, die in der sterblichen Begrenzung wurzeln. Und diese Begrenzung ist es, die versucht, das Gemüt zu mechanisieren.
Das dem göttlichen Gemüt eigene Gesetz der Liebe läßt niemals zu, daß das wirkliche Bewußtsein mechanisiert wird, was auch immer die moderne materielle Mathematik behaupten möchte. Die Rechenautomaten, die jetzt von fortschrittlichen Wissenschaftlern erdacht werden, werden unweigerlich Routinevorgänge, Wiederholungsvorgänge des sterblichen Gemüts übernehmen. Dies sollte die Denker zwingen, sich in höhere geistige Bereiche zu erheben, wo das Denken weniger abgestumpft und mehr schöpferisch, dem wirklichen Bewußtsein um einen Schritt näher ist.
Das wirkliche Bewußtsein ist stets spontan, immer neu und geistig frei, und muß es stets sein. Mrs. Eddy faßt das Thema dieses Artikels auf Seite 354 ihres Buches „Vermischte Schriften“ mit folgenden Worten zusammen: „Ein wenig mehr Anmut, ein geläuterter Beweggrund, einige liebevoll mitgeteilte Wahrheiten, ein besänftigtes Herz, ein beherrschter Charakter, ein hingebungsvolles Leben würden die rechte Tätigkeit des innern Triebwerks wiederherstellen und offenbaren, daß die Bewegung von Körper und Seele im Einklang mit Gott steht.“