Die strenge Vorschrift (2. Mose 20:8): „Gedenke des Sabbattags, daß du ihn heiligest“, gründet sich auf die Tatsache, daß der Sabbat im wesentlichen Gottes Tag ist. Die Verse 9–11 bringen dessen Einsetzung mit der Zeitdauer der Schöpfung von sechs Tagen in Verbindung, oder mit grundlegenden Zeitabschnitten, die im ersten Kapitel der Genesis dargelegt sind, gefolgt von einem siebenten Tag, an dem Gott ruhte oder, genau genommen, mit Seiner Arbeit aufhörte. In der Wiedergabe des vierten Gebots im 5. Buch Mose (5:12–15) wird jedoch die Forderung nach Ruhe am Sabbattag so angesehen, als werde damit eine fortwährende Mahnung festgelegt, daß Gott die Ahnen der Hebräer aus der Knechtschaft in Ägypten befreite. Daher sollten sie ihrerseits darauf sehen, daß ihr wöchentlicher Ruhetag am Sabbat zusammen mit ihren Dienstleuten und besuchenden Fremden und auch mit ihren Tieren eingehalten würde.
Beide Berichte erklären übereinstimmend: „... am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes; da sollst du kein Werk tun.“ Tatsächlich hat das hebräische Wort für Sabbat die grundlegende Bedeutung von „Ruhe“ oder „Pause“. Die Hebräer befolgten und befolgen auch heute noch den Sabbat am siebenten Tag der Woche, der ungefähr dem heutigen Sonnabend entspricht, obwohl er, genau genommen, vom Sonnenuntergang am Freitag bis zum Sonnenuntergang am Sonnabend gerechnet wird, und zwar in Übereinstimmung mit der wiederholten Erklärung im Schöpfungsbericht, daß der Abend dem Morgen vorausgeht (siehe z.B. 1. Mose 1:5). Gewisse christliche Gemeinschaften der heutigen Zeit sehen den Sonnabend ebenfalls als ihren Sabbat an.
Mit dem Anwachsen der ersten christlichen Kirche wurde jedoch die Betonung auf den ersten Tag der Woche gelegt, der mit Christi Jesu Auferstehung in Verbindung gebracht und daher „des Herrn Tag“ (Offenb. 1:10) genannt wird. Und seit der Zeit, gegen Ende des ersten Jahrhunderts, hat die große Mehrzahl der christlichen Kirchen ihren wöchentlichen Tag der Ruhe und Gottesverehrung, wozu er im vierten Gebot bestimmt wurde, auf den Tag verlegt, den wir den Sonntag nennen.
Die orthodoxe jüdische Obrigkeit und besonders die Schriftgelehrten und Pharisäer, die im Neuen Testament so oft erwähnt werden, beanspruchten, in ihrer strengen und wörtlichen Befolgung des Wortlauts des vierten Gebots, daß „du kein Werk tun“ sollst am Sabbat, peinlich genau zu sein; aber Christus Jesus entlarvte wiederholt die Heuchelei ihres Verhaltens. Bei zahlreichen Gelegenheiten sehen wir sie den Meister tadeln, wenn er die Kranken am Sabbat heilte. Aber unser Meister zögerte nicht, sie daran zu erinnern, daß sie es für zulässig hielten, ihre Tiere an diesem Tag loszubinden und zu füttern. Da dies der Fall war — so führte er überzeugend an —, welchen triftigen Einwand könnten sie dann dagegen erheben, daß er eine Frau an demselben Tag der Woche heilte, die 18 Jahre in den Banden der Krankheit gelegen hatte! Beschämt zum Schweigen gebracht, konnten sie keine Antwort auf seine inspirierte logische Folgerung geben (siehe Lukas 13:11–17).
Solche Menschen, die alles wörtlich nehmen, betrachteten selbst das als ein Vergehen gegen das vierte Gebot, daß die Jünger am Sabbat einige Ähren ausrauften und die Körner aßen; ebenso daß ein ehemals Verkrüppelter an demselben Tag sein Bett trug und dadurch bewies, daß Jesus ihn von seiner Behinderung vollständig geheilt hatte (siehe Matth. 12:1, 2; Joh. 5:1–16).
Ein sorgfältiges Studium der Evangelien macht in reichem Maße klar, daß der Meister nicht zögerte, die religiöse Seite des vierten Gebots zu befolgen, wie es sein regelmäßiger Besuch der Synagoge zu den Sabbatgottesdiensten beweist; aber seine Liebe und sein Mitgefühl, die er ständig für seine Mitmenschen ausdrückte, verankaßten ihn, immer dann zu heilen, wenn Heilung erforderlich war und nach ihr verlangt wurde, ohne Rücksicht auf den Tag der Woche, an dem ihn der Ruf erreichte.
Was für ein getreues Beispiel gab er doch für die Worte seiner eigenen Seligpreisung (Matth. 5:7): „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“!
 
    
