Wenn das Denken durch die göttliche Metaphysik, wie die Christliche Wissenschaft sie lehrt, vergeistigt wird, dann gewinnen die Erzählungen in der Bibel eine neue, tiefere und praktischere Bedeutung.
Im Johannesevangelium lesen wir, daß Johannes der Täufer eines Tages, als er Jesus kommen sah, freudig ausrief (1:29): „Siehe, das ist Gottes Lamm.“ Johannes wiederholte diese Worte am folgenden Tag, als zwei seiner Jünger dabeistanden, und daraufhin folgten sie Jesus nach. Offenbar waren es die Worte des Täufers, die sie dazu veranlaßten, denn diese beiden Männer waren sogleich bestrebt, mehr über das Lamm Gottes zu erfahren. Jesus, der sie kommen sah, fragte sie, was sie suchten. „Rabbi, ... wo bist du zur Herberge?“, war ihre eindringliche Frage.
Als Antwort auf ihre Frage wurde den beiden Jüngern die einfache und liebevolle Einladung Jesu zuteil: „Kommt und sehet!“
Das Evangelium erzählt: „Sie kamen und sahen’s und blieben den Tag bei ihm.“ Es wird uns nicht berichtet, was Jesus an diesem Tag zu den beiden Jüngern sagte. Zweifellos empfingen sie einen wunderbaren Lichtblick von Jesu geistigem Aufenthaltsort und von seiner wahren Selbstheit, dem Christus. Wie hätte Andreas sonst später seinem Bruder Simon freudig zurufen können (Vers 41): „Wir haben den Messias gefunden“?
Wie können wir wissen, wo Jesus weilte, und wie können wir heute den Messias finden? Mrs. Eddy schreibt in ihrem Buch „Nein und Ja“ (S. 36): „Jesu wahres und bewußtes Sein verließ nie den Himmel um der Erde willen. Es weilte immerdar droben, selbst während die Sterblichen glaubten, es sei hier. Er sprach einmal von sich selbst (Joh. 3:13) als von ‚des Menschen Sohn, der im Himmel ist‘ — bedeutungsvolle Worte, da sie der allgemein verbreiteten Vorstellung von der Natur Jesu völlig entgegengesetzt sind.“ So zeigt uns die Wissenschaft des Christentums klar, wo Jesus — bildlich gesprochen — „zur Herberge“ war, das heißt, in welchem Bewußtsein er weilte. Sie lehrt uns, daß sich seine geistige Wohnstätte im göttlichen Bewußtsein befand.
Schon als zwölfjähriger Knabe sagte er einmal zu Maria und Joseph: „Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist?“ (Luk. 2:49). Während seiner ganzen irdischen Laufbahn lebte unser großer Meister unentwegt das Christus-Prinzip. Die Reinheit, Heiligkeit und Glückseligkeit des Geistes war sein einziger wirklicher Aufenthaltsort. Daher seine bestimmte Erklärung (Joh. 10:30): „Ich und der Vater sind eins.“ Damit meinte Jesus nicht, daß seine menschliche Persönlichkeit, der körperliche Jesus, eins sei mit dem Vater, sondern daß seine wahre, geistige Selbstheit, der Christus, der sich in dem Messias kundtat, eins mit Gott ist und sich noch heute kundtut.
Der Christus, Wahrheit, ist immergegenwärtig und kann von jedem demonstriert werden. Die Wissenschaft des Seins liefert allen, die das ehrliche Verlangen hegen, das Einssein oder die Einheit des Menschen mit seinem himmlischen Vater zu erkennen, den sicheren Beweis dieser Tatsache. Um diese Erkenntnis zu erlangen, bedarf es jedoch treuer, geistiger Wachsamkeit. Sind wir uns wohl der Größe des Segens bewußt, der uns durch diese Wachsamkeit zuteil werden kann? Früher oder später müssen wir die Verantwortung für jeden Mangel an Wachsamkeit auf uns nehmen.
Mannigfaltig sind die Einflüsterungen des sterblichen Gemüts, die unser Bewußtsein des Einsseins mit Gott erschüttern möchten, aber es gibt keine einzige, die wir nicht durch gewissenhaftes Festhalten an den Regeln der göttlichen Wissenschaft zurückweisen können. Wie hilfreich ist uns in diesem Zusammenhang Artikel VIII Abschnitt 6 des Kirchenhandbuchs von Mary Baker Eddy. Die Satzung enthält die folgenden Worte: „Es ist die Pflicht eines jeden Mitglieds dieser Kirche, sich täglich gegen aggressive mentale Suggestion zu schützen und sich nicht verleiten zu lassen, seine Pflicht gegen Gott, gegen seine Führerin und gegen die Menschheit zu vergessen oder zu versäumen.“
Wies unser Meister nicht jede Suggestion des sterblichen Gemüts zurück und blieb erhaben über dessen falschen Gesetzen? Materie und Zeit bildeten keine Hindernisse für ihn. Er speiste die Hungrigen, wandelte auf dem Wasser, erlöste die Sünder, heilte die Kranken und weckte Tote auf. Von seinen mächtigen Worten und Werken sagte er, daß es der Vater in ihm sei, der sie tue. Die göttliche Kraft, die sich in den Werken des Messias zeigte, ist die Kraft des Geistes, die sich auch heute im Überwinden von Sünde und Leiden durch die Wissenschaft des Seins kundtut. Die Forderung dieser Wissenschaft, Gottes Gebote zu halten, muß jedoch zu jeder Zeit genau erfüllt werden.
Diese Tatsache wurde einer Anhängerin der Christlichen Wissenschaft in folgendem Falle bewiesen. Sie litt an einer schmerzhaften Nervenentzündung in einem Arm und in der Schulter. Eines Nachts nahmen die Schmerzen trotz ihrer Wahrheitsbehauptungen dermaßen zu, daß sie aufstehen mußte. Der Arm und die Hand waren bewegungslos geworden.
Demütig versuchte sie noch einmal ihr Denken zu erforschen und zu läutern. War sie wachsam gewesen und hatte sie getreulich und fest in dem göttlichen Bewußtsein beharrt, das es ihr ermöglichen würde, den Christus zu finden? Nein, sie erinnerte sich plötzlich, daß sie sich durch eine ungerechte Handlung von Personen, von denen sie angenommen hatte, sie seien ihre Freunde, sehr verletzt gefühlt hatte. Sie hatte behauptet, diesen Personen vergeben zu haben, doch nun erkannte sie, daß sie unbewußt ein Gefühl der Bitterkeit und der Enttäuschung hegte.
Sie wußte, daß sie nicht nur jeden Gedanken als ungültig und machtlos abweisen mußte, der beanspruchte, sie von Gott zu trennen, sondern auch jegliche Anklage, die gegen das wirkliche Selbst anderer gerichtet war. War Gott nicht stets Alles-in-allem gewesen? War Er nicht unwandelbar gerecht, und war nicht der wirkliche Mensch Sein reines Ebenbild? Konnte es in der unendlichen Liebe etwas geben, was ihr schaden konnte? Sie wußte, daß ihr wahres Selbst von allem unberührt war, was nicht von Gott ausging.
Wir lesen in der Botschaft an Die Mutterkirche für 1901 von Mary Baker Eddy (S. 20): „Der Christliche Wissenschafter ist allein mit seinem eigenen Sein und mit der Wirklichkeit der Dinge.“ Als die Schülerin die Lage von der Höhe des göttlichen Gemüts aus betrachtete, erblickte sie die völlige Unwirklichkeit der ganzen unharmonischen Erfahrung. Liebevolles Erbarmen mit denen, die sie gekränkt hatten, erfüllte ihr Denken, und sie erkannte, was es heißt, wirklich zu vergeben. Alle Schmerzen waren verschwunden, und am darauffolgenden Morgen konnte sie die Hand und den Arm wieder normal bewegen. Die Heilung war vollkommen und blieb von Dauer. Sie hatte den Messias gefunden.
