Wenn die Menschen frei sind, haben sie unter anderem das Recht, verschiedener Meinung zu sein. Aber das Recht auf eine abweichende Meinung gibt dem einzelnen nicht das Recht, seine Ansicht anderen Menschen aufzuzwingen. Wenn wir der Menschheit helfen wollen, zu dem Punkt vorzudringen, wo alle frei sind, müssen wir danach ringen, Selbstgerechtigkeit zu überwinden und statt ihrer die Christlichkeit zu gewinnen, durch die wir jeden einzelnen in seinem Bemühen, sich selbst zu finden und sich selbst auszudrücken, schätzen.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß Gott Geist ist und daß der Mensch Seine geistige Idee ist. Gott ist das göttliche Prinzip, Alles. In dem geistigen Universum, dem All, gibt es keinen abweichenden Gedanken, denn es gibt da nichts, was Meinungsverschiedenheiten herbeiführen könnte. Die Frage der Meinungsverschiedenheit verwirrt uns jedoch, wenn wir nicht klar zwischen dem geistigen Universum und der menschlichen Gesellschaft unterscheiden. Und diese Verwirrung führt zu viel Verdruß. Die Menschen messen ihren persönlichen Meinungen den Rang der göttlichen Wirklichkeit bei und versuchen — wie sie glauben — mit göttlicher Vollmacht, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Wenn wir jedoch den Unterschied zwischen der geistigen Wirklichkeit und dem menschlichen Denken, oder der menschlichen Meinung, verstehen, so zeigt uns dies, daß das Recht auf eine eigene Meinung für den Fortschritt und die Fortentwicklung der Menschen etwas Normales ist. Und dieses Verständnis veranlaßt uns, jenes Recht zu schützen.
Das geistige Universum mit seiner vollkommenen Regierung durch ein Prinzip, ein Gemüt, ist unser Ideal. Aber wir nähern uns diesem Ideal mit individuellen Ansichten darüber. Der Apostel Paulus ermahnt uns, unser Heil individuell auszuarbeiten (siehe Phil. 2: 12, engl. Bibel). Und Christus Jesus warnte: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ Matth. 7:1; Wir dürfen uns sehr wohl fragen, was sich in uns dagegen auflehnt, daß ein anderer unsere Meinung nicht teilt. Ist es Christlichkeit oder Selbstgerechtigkeit?
Wenn wir begreifen, daß es so lange Meinungsverschiedenheiten geben wird, bis sich die Menschheit ganz und gar über die Erde erhebt und der Mensch einzig als die zusammengesetzte Idee des Geistes erkannt wird, werden wir in der Lage sein, unterschiedliche Auffassungen von Konflikten zu trennen. Wenn wir diese Trennung machen, können wir die Unterschiede ausgleichen und die Konflikte beseitigen. Aber unterschiedliche Auffassungen werden so lange Konflikte sein, wie diejenigen, die verschiedene Ansichten vertreten, behaupten, daß ihre eigenen Ansichten von Gott stammten. Zu sagen, daß es keinen Raum für individuelle Ansichten gebe, weil es nur ein Gemüt gibt, heißt im Namen der Einheit Verwirrung verbreiten. Wenn die Menschheit die Vollkommenheit erreicht hat, wird es keine unterschiedlichen Auffassungen mehr geben; aber unterschiedlichen Auffassungen auszuschließen, ehe die geistige Vollkommenheit erreicht ist, heißt die menschliche Freiheit zerstören.
Die Christliche Wissenschaft bietet der Welt Freiheit von Sünde, Krankheit und Tod. Sie offenbart das Gesetz des Prinzips, erklärt es und gibt uns Regeln, die wir befolgen können, um nach diesem Gesetz zu handeln und durch geistiges Heilen die vollkommenheit und Harmonie des Universums Gottes zu demonstrieren. Aber es liegt in der Natur der Menschheit, daß sie die Wahrheit nur allmählich verstehen lernt, weil die Menschheit ihre Existenz in mentalen Begriffen hat, die die Zeit einschließen. Wenn die geistige Vollkommenheit erlangt ist, wird sich Zeit als unwirklich erweisen. Daher hat die Zeit in Wirklichkeit keine Rolle gespielt, und es hat keine Unvollkommenheit gegeben. Das göttliche Gemüt kennt nur das zeitlose, geistige Dasein, und es erschafft seine Idee, den Menschen, ohne Zeit, ohne Sünde, ohne einen zerstörenden Gedanken oder ein zerstörendes Element.
In einem Artikel, betitelt „Behutsamkeit in der Wahrheit“, spricht Mrs. Eddy davon, daß Gott das Böse nicht kennt. Nachdem sie erklärt hat, daß Gott Sünde nicht kennen kann, sagt sie: „Dennoch werden weise Männer und Frauen zu dieser gegenwärtig noch unreifen Stunde nicht gewaltsam oder voreilig eine Frage aufwerfen, die das All der Unendlichkeit umfaßt. Vielmehr werden sie sich des geringen Verständnisses erfreuen, das sie bereits von der Allheit der Gottheit gewonnen haben, und sich allmählich und behutsam zu dem vollkommenen göttlichen Gedanken emporarbeiten. Durch diese Demut werden sie einen höheren Begriff von Gott erlangen, weil ihre inneren Kämpfe und der Stolz ihrer eigenen Meinung entsprechend abnehmen.“ Die Einheit des Guten, S. 4;
Wenn wir das Gute der Menschheit fördern, wird uns unsere selbstlose Liebe für die Versuche des sterblichen Gemüts, Selbstgerechtigkeit als Gottähnlichkeit zu bezeichnen, die Augen öffnen. Selbstlose Liebe ist gütig. Sie verdammt nicht jemanden, der mit falschen Auffassungen kämpft, noch duldet sie ihn nur eben. Selbstlose Liebe spiegelt die göttliche Liebe wider, und Mrs. Eddy sagt uns: „Liebe steht dem kämpfenden Herzen bei, bis es aufhört über die Welt zu seufzen und anfängt seine Schwingen himmelwärts zu entfalten.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 57.
Ein sorgfältiges Studium der Werke Mrs. Eddys offenbart die Tatsache, daß sie die Christliche Wissenschaft in einer Weise darbot, die den unterschiedlichen Auffassungen der Menschheit entgegenkommt. Es gibt Punkte, deren Demonstration dem einzelnen überlassen bleibt. Mrs. Eddy ist ihrem eigenen Rat gefolgt, indem sie in Dingen, die das menschliche Gemüt noch nicht genau erfassen kann, keine Schlußfolgerungen erzwang. In dem Verhältnis, wie die Christlichen Wissenschafter im Verständnis der Wahrheiten ihrer Religion vorankommen, lernen sie verstehen, daß es überaus wichtig ist, Mrs. Eddy sowohl mit Demut wie mit Geduld in der Darlegung der Wahrheit nachzufolgen, wenn sie wirksame Arbeit für die Welt tun wollen. Sie dürfen nicht von einem anderen fordern, sich entweder ihren Ansichten oder den von einer Person zusammengefaßten Ansichten Mrs. Eddys anzuschließen.
Wenn wir dahin kommen, daß wir klar verstehen, wie wir zwischen der geistigen Wirklichkeit und dem menschlichen Bewußtsein, das darum ringt, sie anzunehmen, unterscheiden können, werden wir das Recht auf eine eigene Meinung besser zu nutzen und zu unterstützen und einen Mißbrauch besser zu verhüten wissen. Unsere Fähigkeit hierzu ist ein gute Gradmesser für unser Verständnis von der wahren Idee Gottes, dem Christus, der Gottes Regierung des Menschen im Himmel und auf Erden offenbart.
