Jesaja von Jerusalem, der gewöhnlich als der hauptsächliche Verfasser der ersten 39 Kapitel des Buches gilt, das jetzt den Titel „Jesaja“ hat und von 740 bis 701 v. Chr. datiert, ist mit Recht wegen seiner messianischen Prophezeiungen berühmt. Jesaja war in der Bibel natürlich nicht der erste, der sich für das Volk Israel Fortschritt ausmalte, vorausgesetzt, daß es beharrlich für Heiligkeit und eine wahre Regierung eintreten würde, die von Gott festgelegt und immerdar aufrechterhalten wird. Schon von Mose, dem großen Gesetzgeber, wird berichtet, daß er den Hebräern mit Bezug auf die an ihren Grenzen wohnenden götzendienerischen Völker gesagt haben soll: „Wenn du in das Land kommst, das dir der Herr, dein Gott, geben wird, so sollst du nicht lernen, die Greuel dieser Völker zu tun. .. Du aber sollst untadelig sein vor dem Herrn, deinem Gott“ (5. Mose 18:9, 13). Darauf folgt die berühmte messianische Prophezeiung in Vers 15: „Einen Propheten wie mich wird dir der Herr, dein Gott, erwecken aus dir und aus deinen Brüdern: dem sollt ihr gehorchen.“
Es war jedoch Jesaja, der dem Volk Juda in allen Einzelheiten dringend einschärfte, sich Gott zuzuwenden, und der auch den Begriff der Regierung des Messias entwickelte. Jesaja prophezeite einen Rest, oder einen Bestand an Gerechten, der übrigbleiben würde, um zu segnen und gesegnet zu werden. Er verlangte ein festes Eintreten für Heiligkeit und gerechtes Gericht. Seine Vision von dem Friedensreich und dessen Grundlage für den zukünftigen Fortschritt findet auch in den Schriften Michas ein Echo (siehe Jes., Kap. 2, und Micha, Kap. 4).
Hosea, der im nördlichen Israel prophezeite und wahrscheinlich noch vor Jesaja, obwohl viel kürzer gefaßt, wurde als derjenige bezeichnet, der „den ersten Hinweis auf jenen idealen Herrscher gab, dem wir in Micha und Jesaja begegnen sollten“ (Die Lehre der Propheten von A. F. Kirkpatrick, S. 137). Hosea schrieb (3:5): „Danach werden sich die Kinder Israel bekehren und den Herrn, ihren Gott, und ihren König David suchen und werden mit Zittern zu dem Herrn und seiner Gnade kommen in der letzten Zeit.“ Kirkpatrick bemerkt weiter zu diesem Vers: „David kann nicht nur bedeuten, daß es ein Fürst aus dem Hause Davids ist, sondern es muß ein zweiter David sein; einer, der dem Mann nach Gottes eigenem Herzen entspricht und der — wie es aus der Stellung, die er einnimmt, klar hervorgeht — Jehovas wahrer Vertreter sein soll.“
Diese Seher scheinen völlig davon überzeugt gewesen zu sein, daß sich entfernte Nationen ihnen anschließen und ebenfalls die Vorteile dieser universalen Friedensherrschaft genießen würden, wenn sich ihr Volk Gott zuwendete; Disharmonie und Streit würden durch Harmonie ersetzt werden — durch geistigen Fortschritt und geistige Erneuerung. Diese Ziele würden vielleicht nicht sofort erreicht werden können, würden sich aber „zur letzten Zeit“ (Jes. 2:2; Micha 4:1) verwirklichen.
Es überrascht nicht, wenn man feststellt, daß der Begriff der rechten Regierung in dem Gedanken gipfelt, daß solch eine Regierung unter einem idealen Führer vereinigt sein soll, den man als den Messias oder Christus kennen wird (Mashiach im Hebräischen und Christos im Griechischen); die ausschlaggebende Bedeutung dieses Wortes ist in beiden Sprachen „der Gesalbte“. Daß man sich den Messias als einen Sproß aus dem Hause David vorstellte, kann mit der großen Hochachtung erklärt werden, die das hebräische Volk für diesen königlichen Helden hatte, dessen Stärke und Tapferkeit, dessen Edelmut und Siege sprichwörtlich geworden waren.
Jesajas Forderung, in der Gegenwart gerecht zu sein, schuf die Grundlage für solche messianischen Hoffnungen. Er wollte, daß die Menschen seiner Generation allezeit darauf bedacht waren, Böses durch die ständige Ausübung des Guten zu ersetzen. „Wascht euch, reinigt euch“, rief er, „tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache!“ (Jes. 1:16, 17.)
Jesaja fand eine tiefe Bedeutung in dem Begriff des Wortes „Zweig“, ein Symbol für Wachstum, Tätigkeit oder Erneuerung, das im Alten Testament oft so gebraucht wurde. Wie es in Jesaja angewandt wird (4:2) — der hebräische Ausdruck ist tsemach —, bedeutet es buchstäblich „Reis“ oder „Sproß“. Obwohl der Ausdruck hier vielleicht nicht direkt auf das Kommen eines persönlichen Messias’ hinweist, kann er sehr wohl die Grundlage für solch ein Ideal schaffen. „In der Zeit“, schreibt Jesaja — wie es in der früheren Ausgabe der Lutherbibel heißt —, „wird des Herrn Zweig lieb und wert sein und die Frucht der Erde herrlich und schön bei denen, die erhalten werden in Israel.“ (Siehe auch 11:1, wo das hebräische Wort, das mit „Zweig“ übersetzt ist, netser heißt.)
Als König Ahas von Juda einen Angriff der Armeen von Damaskus und dem nördlichen Israel vermutete und er sehr beunruhigt war über die Lage, in die er und sein Volk geraten waren, forderte der Prophet ihn heraus, vom Herrn ein Zeichen zu verlangen, ein Symbol der Ermutigung; aber Ahas gab sich fromm und weigerte sich — „damit ich den Herrn nicht versuche“ (7:12), sagte er — und wählte statt dessen ein Bündnis mit den Assyriern, obwohl sie Heiden waren (siehe 2. Könige 16:7 ff.). Der Prophet kündigte dann unverzüglich das heute berühmte Zeichen der Befreiung an, um das zu bitten der König abgelehnt hatte: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel“ (Jes. 7:14). Das hebräische Wort „Immanuel“ (auch manchmal Emanuel) bedeutet wörtlich „Gott mit uns“ und weist deutlich auf die Gegenwart und Macht der Gottheit hin, wie sie im menschlichen Leben zum Ausdruck kommt.
Obwohl einige Gelehrte behaupten, daß Jesajas Erklärung, die dem eigentlichen Ereignis etwa sieben oder acht Jahrhunderte vorausging, mehr allgemeiner als spezieller Art gewesen war, erklärte Matthäus später, daß diese Verheißung in der Geburt Jesu ihre direkte Erfüllung fand (siehe Matth. 1:22, 23).
Jesajas wiederholte Verurteilungen der Sündhaftigkeit werden durch Verheißungen des Heils aufgewogen. Die Belohnung des Guten ist genauso gewiß (siehe Jes. 33:15–17) wie der Sturz des Bösen (siehe zum Beispiel Kap. 34). Bei den fast unzähligen Arten der Erlösung, die vorausgesagt werden, wird häufig eine Abwechslung hineingebracht. Vor einem Hintergrund von Gefahr und Hindernissen, die ebenso gewiß das Ergebnis von Selbstsucht, mangelnder moralischer Festigkeit und sozialer Ungerechtigkeit im Innern sind wie von Angriffen Assyriens von außen, beschreibt er immer wieder seine Vision von Gott: dem Richter, Gesetzgeber, König und Erlöser (siehe 33:20–24).
Eine weitere messianische Vorhersage, die mit Jesaja von Jerusalem in Verbindung gebracht wird und uns aus dem Matthäusevangelium vertraut ist, sagt die Bedeutung Galiläas voraus und die Verbannung von Finsternis und Tod aus der Gegenwart des Lichts (siehe Jes. 9:1 f.; Matth. 4:14 ff.).
In seinem Bemühen, den Charakter und die Aufgabe des Messias zu beschreiben, bedient sich dieser große Prophet einer erstaunlich weiten Skala von konstruktiven Begriffen. In demselben neunten Kapitel schreibt er: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben“ (Vers 5). Die Macht seiner Herrschaft, das Wunder seines Namens, seine königliche Majestät und sein göttliches Wesen, der väterliche Schutz und die fürstliche Herrschaft des Friedens, die mit dem Hause des Königs David in Verbindung gebracht werden, werden für alle Zeiten als durch Recht und Gerechtigkeit gestützt gesehen (siehe Vers 6).
Jesaja von Jerusalem schrieb noch weitere herrliche Verheißungen nieder, in denen er nicht nur über Jahrhunderte hinaussah, bis zu der Zeit des Neuen Testaments und dem Erscheinen des Meisters, sondern für alle Zeiten Hoffnung gab. Das 35. Kapitel ist typisch für die erhebenden Botschaften, die von diesem inspirierten Propheten dargeboten werden und Worte der Hoffnung und der Ermutigung verkünden. Er konnte die zunehmende Fruchtbarkeit des Landes voraussehen, nicht mehr ein Land, das verdorrt und vertrocknet ist, sondern in Teichen und Strömen reichlich Wasser hat, ein Land in überreicher Pracht und Freude und Schönheit. Noch bedeutender sind seine Hinweise auf die Verbannung der Furcht und auf die gottgegebene Zusicherung von Kraft und Heilung. Er schließt mit einer weiteren frohen Verheißung: „Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen“ (Vers 10).