Hesekiel war der erste große Prophet in der hebräischen Geschichte zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft. Sowohl seine wie Jeremias Vorfahren waren Priester, aber zwischen ihnen bestand ein deutlicher sozialer Unterschied. Wenn auch Jeremias Wirken sich zum großen Teil auf Jerusalem konzentrierte, gab er die Verbindung zu seinem Heimatort nicht auf. Ja, vielleicht ist er sogar wegen seiner provinziellen Herkunft verhöhnt worden.
Hesekiel andererseits gehörte dem aristokratischen Priestergeschlecht Zadoks an, das in den Tagen Davids und Salomos zum ersten Male hervortrat.
Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß Jeremia und Hesekiel Zeitgenossen waren und sich viel in Jerusalem aufhielten, bevor Hesekiel mit den Gefangenen nach Babylon ging, und daß beide starkes Interesse für ihren geliebten Tempel und die Probleme Jerusalems und seiner Bürger zeigten. Wenn auch keinerlei Hinweise es zu bestätigen scheinen, kann man als selbstverständlich voraussetzen, daß sie einander begegnet sind.
Jeremia, der einige Jahre älter war als Hesekiel und ein freundliches und gefühlsbetontes Wesen besaß, war sich der bevorstehenden Zerstörung Jerusalems mehr und mehr bewußt geworden. Er wirkte in der Hauptstadt im wesentlichen in den Jahren, die ihrem Fall unmittelbar vorausgingen — ein Ereignis, das ihm so unvermeidlich erschien, wie es seinen Landsleuten unmöglich vorkam.
Hesekiel, dessen Wirken sich in erster Linie auf Babylon konzentrierte, war nicht so gefühlsbetont wie Jeremia, aber mehr zu Visionen neigend, und als sein Buch verfaßt wurde, war die erste Belagerung Jerusalems (597 v. Chr.) bereits vorüber, und die Zerstörung, die Jeremia so lebendig prophezeit hatte, gehörte mittlerweile weitgehend der Geschichte an.
Als Jerusalem fiel, wurde Jojachin, der junge König von Juda (der achtzehnjährige Sohn Jojakims), mit allen denen, die hohe Positionen innehatten, und anderen, die als besonders wertvoll und wichtig galten, nach Babylon (oder Chaldäa) deportiert. Zu ihnen gehörte auch Hesekiel, der zur Zeit dieser ersten Gefangenschaft ein junger Mann gewesen sein muß. Nebukadnezar, der König von Babylon, und seine Generäle mögen den Schluß gezogen haben, daß, wenn die führenden Männer Jerusalems erst einmal gefangen genommen wären, die im Lande verbliebenen Juden wegen fehlender Führung und mangelnden Ansporns sicherlich kapitulieren würden. Jeremias Vision von den Feigenkörben hängt damit zusammen (siehe Kap. 24).
Als Hesekiel mit den anderen Gefangenen in Babylon ankam, stellte er zweifellos fest, daß ihre Lage bei weitem nicht so ernst war, wie sie vielleicht befürchtet hatten. Sie wurden offenbar in großen Gruppen angesiedelt, und es wurde ihnen gestattet, ihre Angelegenheiten unter der Leitung verantwortlicher Männer, die sie selbst erwählten, weiterzuführen (siehe Hes. 8:1, 11). Der Prophet besaß ein eigenes Haus in Tel-Abib, an einem Fluß, genauer gesagt an einem Kanal mit Namen Kebar, der wahrscheinlich zu dem großen Bewässerungssystem des Euphrats gehörte (siehe 3:15).
Es war hier in Tel-Abib, in seiner Wahlheimat, daß Hesekiel etwa fünf Jahre nach seinem Weggang aus Jerusalem im Jahre 597 v. Chr. den Ruf zu predigen erhielt.
Was seine vielen Visionen betrifft, so war diejenige, die er zur Zeit seiner Berufung hatte, wirklich denkwürdig, ganz in Übereinstimmung mit seiner Herkunft als Priester, der mit den komplizierten Zeremonien im Tempel vertraut ist. Hesekiel schreibt: „Der Himmel [tat sich] auf, und Gott zeigte mir Gesichte“, und fügt hinzu: „Da geschah das Wort des Herrn zu Hesekiel, ... dem Priester, ... am Fluß Kebar. Dort kam die Hand des Herrn über ihn“ (1:1, 3) — ein klarer Hinweis auf die Stärke und Gegenwart des Allmächtigen. Er bemühte sich, die lebhaften und erstaunlichen Gesichte und Laute zu beschreiben, die ihm dabei offenbart wurden, während er dann im 28. Vers desselben Kapitels hinzufügte: „So war die Herrlichkeit des Herrn anzusehen. Und als ich sie gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörte einen reden.“ Obgleich er als Priester ausgebildet worden war, sollte ihm jetzt das Amt des Propheten übertragen werden.
Die Botschaft war so lebendig und bedeutsam, daß sie ihm offenbar auf fünffache Art und Weise und bei verschiedenen Gelegenheiten kam (siehe 2:1 bis 3:27).
„Du Menschenkind“, verkündigte die Stimme, „tritt auf deine Füße, so will ich mit dir reden“ (2:1). Die eindrucksvolle Bezeichnung „Menschenkind“ ist ein beachtenswertes Merkmal des Buches und wird in bezug auf den Propheten nahezu hundertmal gebraucht, vielleicht als Erinnerung an seinen besonderen Auftrag von Gott. Als Redewendung könnte dieser Ausdruck im Hebräischen einen Menschen als menschliches Wesen bezeichnen, oder vielleicht den Menschen in seiner hohen Stellung als Vertreter des Menschengeschlechts oder auch bloß als Sterblichen im Gegensatz zur Majestät der Gottheit.
Als Hesekiel den Ruf vom Herrn erhielt, war er tief beeindruckt von der gewaltigen Größe der Reformen, mit deren Durchführung er jetzt betraut wurde. In der Vergangenheit hatten die Israeliten beständig gegen Gottes Gesetz verstoßen, und sie führten ihren Götzendienst immer noch fort, ob in Jerusalem oder in der Gefangenschaft. Da aber Hesekiel sich mutig seiner Aufgabe stellte, müssen seine Zuhörer bestimmt gewußt haben, daß ein Prophet unter ihnen gewesen war. Er wurde ermahnt, sich nicht zu fürchten, auch wenn „widerspenstige und stachlige Dornen“ oder sogar Skorpione (2:5, 6) sein Los sein sollten.
Dem Propheten wurde eine „Schriftrolle“ gezeigt, „und darin stand geschrieben Klage, Ach und Weh“ (2:9, 10), die für ihn und seine Landsleute noch eine Rolle spielten. Für Hesekiel, der aufgefordert wurde, diese Schriftrolle zu essen, sollte ihr Inhalt „süß wie Honig“ sein (3:1, 3); die Leute aber würden sich hartnäckig weigern, die Botschaft anzunehmen, und fortfahren, gegen sie aufzubegehren.
Obwohl Hesekiel in einem fremden Lande arbeitete, weit entfernt vom Tempel, dem Mittelpunkt ihrer Gottesanbetung, sprach er als Missionar nicht zu Fremden, sondern zu seinen eigenen Landsleuten, denen gegenüber er in der Lage sein sollte, Gottes Botschaft zu übermitteln (vgl. Matth. 10:6; 15:24).
Nach einer Woche im Gebet am Fluß Kebar erkannte Hesekiel, daß er von Gott „zum Wächter ... über das Haus Israel“ (3:17) berufen war, um ihnen die notwendige Warnung von Gott und eine praktische Richtschnur zu übermitteln, die er später unterstreichen sollte (siehe Kap. 18): daß jeder einzelne für sein eigenes Verhalten verantwortlich wäre.
Die sorgfältige Datierung und Aufgliederung des Buches Hesekiel (wahrscheinlich zwischen 592 und 570 v. Chr. geschrieben) gibt ihm eine fast einmalige Stellung unter den prophetischen Büchern des Alten Testaments. Seine Systematik steht in erfrischendem Gegensatz zu dem, was manchmal als das literarische Chaos in der Weissagung Jeremias bezeichnet worden ist.
Die 48 Kapitel lassen sich leicht in zwei gleiche Teile gliedern. Der erste Teil enthält den Ruf an den Propheten zu predigen, seine vielen symbolhaften Handlungen, seine Weissagungen, seine Brandmarkungen und ernsten Warnungen an die Leute, die noch in Israel waren, und an jene in der babylonischen Gefangenschaft. Es scheint so, als ob er bei seinen sensationellen Visionen von der endgültigen Belagerung und Zerstörung Jerusalems dorthin versetzt worden wäre, wo er intuitiv miterlebte, wie an den heiligsten Stellen noch immer ein vielfältiger, beschämender und entwürdigender Götzendienst betrieben wurde (siehe Kap. 4–24).
Der übrige Teil des Buches — die Urteilssprüche gegen andere Völker und Hesekiels erlösende und erfreulichere Botschaft von der Wiederherstellung und Erneuerung — sind das Thema des nächsten Artikels dieser Serie.
