Jahrhundertelang hatte das jüdische Volk das Kommen eines idealen Führers erwartet, eines Führers, der als der „Kommende“ oder genauer als „der Messias“, buchstäblich „der Gesalbte“, bezeichnet wurde — einer, der von Gott auserwählt war, um als Sein Vertreter auf Erden zu wirken.
Die Evangelien stellen Johannes, den Sohn des Zacharias und der Elisabeth, als denjenigen dar, dem die wichtige Aufgabe zufiel, auf das Kommen des Messias vorzubereiten und es anzukündigen. Ja, sie haben fast genausoviel über die Herkunft und Geburt des Johannes zu berichten wie über die des Erlösers, den er ankündigen sollte.
Jesu Erklärung: „Unter allen, die vom Weibe geboren sind, ist keiner aufgestanden, der größer sei als Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer als er“ (Matth. 11:11) veranlaßt uns, das Leben des Täufers und seinen Platz in dem Evangelienbericht gründlich zu erforschen. Niemals sollten wir denjenigen gering einschätzen oder übersehen, der die Substanz der Prophetie des Alten Testaments verkörperte. Er war dazu bestimmt, in ernstem und einfachem Glauben „zuzurichten dem Herrn ein bereitet Volk“, wie der Engel Gabriel seinen Auftrag in Lukas 1:17 ankündigt.
Johannes war nicht nur ein Prophet, sondern auch ehrenhafter priesterlicher Abstammung. Nicht nur, daß sein Vater Zacharias ein Priester war, sondern auch seine Mutter Elisabeth führte ihre Abstammung auf Moses Bruder Aaron zurück, der als der erste Hohepriester des hebräischen Volkes galt. Ein Priester zu sein galt in Israel als eine hohe Ehre, die noch erhöht wurde, wenn der Priester, wie in diesem Fall, die Tochter eines Priesters heiratete.
Im Alten Testament lagen die Priester und Propheten oft im Streit miteinander, aber es ist interessant festzustellen, daß im Neuen Testament dieser traditionelle Zwist bereits in gewissem Grade durch Johannes ausgelöscht war.
Lukas schildert, daß Zacharias und Elisabeth wohlbetagt waren. In ihrem langen Leben hatten sie sich die Reinheit ihres hebräischen Glaubens bewahrt, sie „wandelten in allen Geboten und Satzungen des Herrn untadelig“ (1:6). Doch trotz ihrer demütigen Frömmigkeit hatten sie eine tiefe Enttäuschung erlebt: sie waren kinderlos alt geworden.
Kinderlosigkeit wurde von den Juden biblischer Zeiten als großes Unglück angesehen. Eine Ehefrau, die nicht Mutter geworden war, wurde allgemein vorwurfsvoll, beinahe mit Verachtung betrachtet. Man nahm sogar an, daß sie wegen irgendeiner verborgenen Sünde eine göttliche Strafe erlitt.
Wiederholt weist das Alte Testament auf die bittere Demütigung einer kinderlosen Frau hin, wie in dem Fall von Rahel, die zu ihrem Mann jammernd sagte: „Schaffe mir Kinder, wenn nicht, so sterbe ich“ (1. Mose 30:1). Die kinderlose Hanna wurde von ihrer Rivalin Peninna verspottet, bevor Samuel geboren wurde (siehe 1. Sam. 1:2, 6), und unzweifelhaft mußte Elisabeth ähnliche Schmähungen erdulden, denn als sie schließlich Johannes gebar, frohlockte sie, daß Gott ihre „Schmach unter den Menschen“ (Luk. 1:25) von ihr genommen hatte.
Wie Lukas erzählt, wurde die bevorstehende Geburt des Kindes dieser betagten Eltern dem Vater Zacharias angekündigt, „da er des Priesteramts waltete vor Gott, als seine Ordnung an der Reihe war“ (1:8). Zacharias gehörte zu der priesterlichen Abteilung, oder Schicht, „Abia“ (Vers 5), einer von 24 solcher Abteilungen, die seit Jahrhunderten bestanden, um die Ordnung des Tempels zu bewahren. Zacharias gehörte zu der achten dieser Schichten (siehe 1. Chron. 24:10). Uralte jüdische Aufzeichnungen lassen erkennen, daß jede Schicht für die Aufrechterhaltung des Tempeldienstes in der ihnen zugeteilten Woche verantwortlich war.
Einige Gelehrte haben ausgerechnet, daß Zacharias’ Schicht, die „Ordnung Abia“, in der ersten Oktoberwoche des Jahres 6 v. Chr. im Tempel Dienst tat. Es scheint so, als ob an jedem der sieben Tage der betreffenden Woche eine Gruppe von etwa fünfzig Mann aus den Hunderten zur Verfügung stehenden Priestern ausgewählt wurde, um den vorgeschriebenen Ritus des betreffenden Tages auszuführen. Es war üblich, daß das Los entschied, wer zu der Erfüllung der verschiedenen Pflichten herangezogen werden sollte. Einige waren besonders dafür vorgesehen, sich des großen goldenen Leuchters anzunehmen, andere, den Räucheraltar herzurichten, und wieder andere, das Opfer vorzubereiten. Doch das am meisten geschätzte Vorrecht, das nach ernstem Gebet Zacharias zufiel, war das Räuchern im innersten Schrein des Tempels (siehe Luk. 1:9). Ja, mit dieser hohen Ehre konnte jeder Priester nur einmal in seinem Leben ausgezeichnet werden. (Siehe The Life and Times of Jesus the Messiah — Das Leben und die Zeit Jesu, des Messias — von Alfred Edersheim, Band I, 3. Kap.)
Als Zacharias diese besondere Aufgabe ausführte und in das „Allerheiligste“ ging, trat ihm „ein Engel des Herrn“ entgegen, wie uns Lukas berichtet (1:11), so daß ihn eine Furcht ankam, und zum Erstaunen des Zacharias kündigte ihm der Engel die bevorstehende Geburt eines Sohnes an. Er bestätigte, daß Elisabeth in der Tat zu gegebener Zeit einen Sohn gebären werde und daß das Kind Johannes genannt werden solle (siehe Vers 13).
Gabriel versicherte Zacharias, daß seine Furcht durch Freude und Wonne ersetzt werden würde, durch Erkennen der großen Zukunft, die vor dem Kind liege, denn es werde „erfüllt werden mit dem heiligen Geist“ (Vers 15). Weiter sagte der Engel voraus, daß das Kind, wenn es zum Manne herangewachsen sei, vor dem Herrn groß sein werde, Wein und starkes Getränk ablehnen und im Geist und in der Kraft des Elia des Alten Testaments einhergehen werde.
Da Zacharias die Verheißung anzweifelte und zur Bestätigung ein Zeichen forderte, wurde ihm gesagt, daß er wegen dieses Zweifelns verstummen werde, bis ihm die praktische Bedeutung der Verheißung durch die Geburt des Johannes bewiesen würde (siehe Vers 20).
Wo Zacharias und Elisabeth tatsächlich gewohnt haben, ist nicht bekannt, obwohl die alte Überlieferung beharrlich fortbesteht, daß es in einem Dorf war, das noch heute als Ain Karim bekannt ist, ein bezaubernder kleiner Ort im Hügelland Judas, etwa sechs Kilometer südlich der Hauptstadt, auf einem Hügel, der heute bewaldet ist. Es kann gut sein, daß es dieser Ort war, zu dem Zacharias nach Ablauf seiner Zeit im Tempeldienst und seiner erstaunlichen Vision zurückkehrte.
Elisabeth empfing schließlich ihr verheißenes Kind, und sie und ihre jüngere Verwandte, die Jungfrau Maria, teilten miteinander die freudige Erwartung der Mutterschaft (siehe Luk. 1:24–56).
In welcher Weise Elisabeth und Maria verwandt waren, ist nicht bekannt. Alles, was wir etwa von ihren Söhnen sagen können — von Johannes, dem Vorläufer, und Jesus, dem Messias —, ist, daß auf jeden Fall irgendein Verwandtschaftsgrad bestanden hat.
Alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt
bis zur Zeit des Johannes; und so ihr's wollt annehmen:
er ist der Elia, der da kommen soll.
Matthäus 11:13, 14