Wie Johannes berichtet (7:10 bis 10:21), rief die Tatsache, daß Christus Jesus zum Laubhüttenfest, dem Fest der Einsammlung, in Jerusalem war, viele Auseinandersetzungen hervor. Auf der einen Seite war er bei vielen aus dem Volk beliebt, und auf der anderen Seite brachten ihm viele Judäer in hoher Stellung Argwohn und Feindschaft entgegen. „Es war ein großes Gemurmel über ihn unter dem Volk. Etliche sprachen: Er ist gut; die andern aber sprachen: Nein, sondern er verführt das Volk. Niemand aber redete frei heraus von ihm aus Furcht vor den Juden“ (7:12, 13).
Ungefähr mitten in der Festwoche ging Jesus in den Tempel und lehrte — vielleicht zum erstenmal, da uns nicht berichtet wird, daß er dort gelehrt hatte, als er die Wechsler hinauswarf (s. 2:13–17).
Das Erstaunen seiner Zuhörer darüber, daß er „die Schrift“ kannte, „obwohl er sie doch nicht gelernt“ hatte (s. 7:15), bedeutet nicht, daß Jesus nicht lesen konnte, denn alle hebräischen Knaben wurden in frühem Alter gelehrt, die Schriften zu lesen, und eine Stelle im Lukasevangelium (4:16–20) weist deutlich darauf hin, daß er lesen konnte. Die Bemerkung bezieht sich auf höheres Wissen, auf feststehende Tradition und Auslegung. (Das hier mit „Schrift“ übersetzte Wort ist dasselbe griechische Wort, das in der Apostelgeschichte 26:24 mit „Wissen“ übersetzt wurde.) Er kannte die tiefere Bedeutung der Schriften, ohne die überlieferte, übliche Ausbildung gehabt zu haben, und das erweckte die Neugier, wenn nicht die Bewunderung seiner Zuhörer. Wie er sagte, sollte seine Lehre nicht ihn, sondern Gott verherrlichen, von dem sie stammte.
Die Gelehrten glauben, daß Worte des Meisters: „Ein einziges Werk habe ich getan, und es wundert euch alle“ (Joh. 7:21) auf die an einem Sabbat vollbrachte Heilung eines Kranken am Teich Bethesda Bezug haben (s. 5:2–16). Seine anshließenden Worte lenkten die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer wieder auf das mosaische Gesetz, auf das sie solch großen Wert legten, und er wies auf dessen eigentliche Bedeutung hin (s. 7:19–24).
Die Diskussion darüber, ob Jesus das Recht habe, als der Christus, der lang erwartete Messias, anerkannt zu werden, zieht sich fast durch das ganze 7. Kapitel hindurch.
„Die Hohenpriester und Pharisäer“ — eine Redewendung, die oft mit dem Sanhedrin, dem Hohen Rat des jüdischen Volkes, gleichbedeutend ist, dem Nikodemus angehörte — waren so erbost, daß sie ihn gefangennehmen wollten (s. Vers 32, 45–51), aber Jesus lehrte weiterhin.
Es wird angenommen, daß der Meister vielleicht durch den Brauch, Wasser auf dem Altar auszugießen, eine Zeremonie, die ein Bestandteil dieses Festes war, dazu angeregt wurde, am letzten Tag des Festes das Thema des „lebendigen Wassers“ wieder aufzugreifen, das er schon einmal angeschnitten hatte, als er mit der Frau am Jakobsbrunnen sprach (s. Vers 37, 38, und vgl. 4:6–15).
Nachdem Jesus die Nacht auf dem Ölberg verbracht hatte, kam er am Morgen wieder in den Tempel und fuhr fort zu lehren. Dort brachten die Schriftgelehrten und Pharisäer einen Fall vor ihn, der als äußerst schwierig bezeichnet werden könnte: eine Frau war auf frischer Tat im Ehebruch ergriffen worden. Das alte hebräische Gesetz forderte die Todesstrafe für die Übertretung des siebten Gebots (s. 5. Mose 22:22–24), doch die römische Verwaltung behielt sich das Recht vor, die Todesstrafe zu verhängen. Ganz gleich, welches Urteil Jesus gefällt hätte, man hätte ihn beschuldigt. Wieder einmal wurde dadurch, daß der Meister das Gesetz der Liebe verstand, das die Verdammung aufhob, die Frage tiefgründiger behandelt als durch die lediglich formale Auslegung des mosaischen Gesetzes. Er forderte die gegen die Frau aussagenden Zeugen auf, ihr eigenes Gewissen zu prüfen. Er weigerte sich, sich zum Richter über die Frau zu machen, und entließ sie dann mit den Worten: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“ (s. Joh. 8:3–11).
Dann wurde die Glaubwürdigkeit der Behauptung des Messias angefochten, daß er „das Licht der Welt“ sei. „Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du zeugst von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr“ (8:13). Seine Zuhörer akzeptierten die Forderung im fünften Buch Mose, daß ein Zeugnis, um gültig zu sein, von zwei Personen bestätigt werden mußte (s. 5. Mose 19:15). Und deshalb wies Jesus darauf hin, daß es genüge, wenn sein Vater und er selbst Zeuge seien. „Ich bin’s, der ich von mir selbst zeuge; und der Vater, der mich gesandt hat, zeugt auch von mir“ (Joh. 8:18). Es ist nicht verwunderlich, daß seinen materiell gesinnten Zuhörern die Bemerkungen, er sei von seinem himmlischen Vater gesandt worden und werde von Ihm gelehrt, nicht klar waren.
Die Andeutung, daß das stolze hebräische Volk durch die Erkenntnis der Wahrheit befreit werden müsse, löste eine weitere Debatte aus (s. Vers 31–58). Jesus begegnete seinen Fragestellern auf ihrer eigenen Ebene und konzentrierte das Gespräch auf Abraham, ihren Stammvater. Dann ging er an das Thema von einer anderen Seite heran, um den Unterschied zwischen jeglicher materieller Abstammung und seinem eigenen geistigen Erbe herauszustellen. Der Verweis war offenbar zu stark gewesen, als daß sie ihn hätten hinnehmen können, denn Johannes berichtet: „Da hoben sie Steine auf, daß sie auf ihn würfen. Aber Jesus verbarg sich und ging zum Tempel hinaus“ (Vers 59).
Im 9. Kapitel des Johannesevangeliums wird eingehender von der Heilung eines Blindgeborenen berichtet, die Jesus am Sabbat vollbrachte, und von der Kontroverse, die sie auslöste. Die Juden glaubten, solch ein Unheil sei die unmittelbare Folge von Sünde, entweder auf seiten der Eltern oder des Sohnes. Jesus wies darauf hin, daß dies nicht der Fall war, sondern daß sie nun Gelegenheit hätten, einen Beweis von Gottes Werk zu sehen.
Es ist klar, daß der Brei, den er auf die Augen des Mannes legte, ebensowenig dem Mann das Augenlicht wiedergab wie die Tatsache, daß der Mann in den Teich Siloah hinabstieg, um den Brei abzuwaschen. Es wird uns lediglich berichtet: „Da ging er hin und wusch sich und kam sehend“ (Vers 7).
Der auffallende Unterschied zwischen jenen religiösen Eiferern, deren Buchstabenglaube sie für diese bemerkenswerte Heilung blind machte, und dem jungen Mann, der die Heilung sowie die Mission des Heilers ganz natürlich akzeptierte, kommt in seinen Worten zum Ausdruck: „Vom Anbeginn der Welt hat man nicht gehört, daß jemand einem Blindgeborenen die Augen aufgetan habe. Wäre dieser nicht von Gott, er könnte nichts tun“ (Vers 32, 33).
Die Verfasser des Alten Testaments erwähnen oft das ihnen so vertraute Hirtenleben, insbesondere die liebevolle Fürsorge des Hirten für seine Herde. Gelegentlich finden wir auch eine Stelle, wo im Gegensatz dazu auf die treulosen Hirten und ihre Nachlässigkeit gegenüber ihren Schafen hingewiesen wird. Im 10. Kapitel des Johannesevangeliums webt Christus Jesus viele Gedankenfäden zusammen, die seinem Wissen um die Pflege der Schafe und die Aufgabe der Hirten entstammten. Im Orient hat die Schafhürde, die von einer Mauer umgeben ist, gewöhnlich eine Tür oder ein Tor. Es ist möglich, daß mehrere Hirten ihre Herden in die Hürde treiben und sie einem Unterhirten oder einem Türhüter anvertrauen, der die ganze Nacht über bei den Schafen in der Hürde bleibt, nachdem er die Tür fest verriegelt hat. Am Morgen öffnet der Türhüter den Hirten die Tür, die ihre Schafe beim Namen rufen und sie zur Weide führen.
In diesem Abschnitt setzt sich Jesus mit einem Menschen gleich, der nicht kam, um zu stehlen oder zu töten, sondern um das Leben zu geben, und zwar in größerer Fülle. Er war „der gute Hirte“, der bereit war, nötigenfalls sein Leben für seine Schafe zu lassen, und der für seine Treue vom Vater geliebt wurde (s. Vers 10, 14, 15, 17).
Weit davon entfernt, für diese treffende Beschreibung selbstloser Liebe einmütig dankbar zu sein, waren manche seiner Zuhörer noch immer nicht für seine Botschaft empfänglich. Deshalb bestand weiterhin eine Kluft zwischen denen, die sie annahmen, und denen, die sie verschmähten (s. Vers 19-21): „Da ward abermals eine Zwietracht unter den Juden über diese Worte. Viele unter ihnen sprachen: Er hat einen bösen Geist und ist unsinnig; ... Die andern sprachen: Das sind nicht Worte eines Besessenen; kann ein böser Geist auch der Blinden Augen auftun?“
