Obgleich die vier Evangelien im wesentlichen in ihren Angaben über die Ereignisse unmittelbar vor und nach Jesu Verurteilung übereinstimmen, weisen sie doch einige Unterschiede in bezug auf die Zeitangaben und den Verlauf des Geschehens auf. Wie Johannes berichtet, fällte Pilatus seinen Urteilsspruch gegen Jesus „um die sechste Stunde“ — gegen Mittag, der üblichen Zeitberechnung gemäß. Markus spricht davon, daß die Kreuzigung „um die dritte Stunde“ — um neun Uhr — stattfand (s. Joh. 19:14; Mark. 15:25). Nach der Version des Johannes trug sich die Begebenheit mit der Dornenkrone und dem Purpurmantel zu, bevor Pilatus Jesus der Volksmenge zur Kreuzigung überantwortete, während sie nach der des Matthäus und Markus danach stattfand. (Vgl. Joh. 19:1–16; Matth. 27:27–31; Mark. 15:15–20.)
Von den vieren beschreibt allein Lukas die traurige Prozession auf ihrem Wege zur Kreuzigung. „Es folgte ihm aber nach ein großer Haufe Volks und Frauen, die klagten und beweinten ihn.“ Die Worte, die Jesus an sie richtete, waren noch immer die eines Lehrers. Er lenkte ihre Gedanken von ihm ab und auf die ernste Sorge um die Ereignisse hin, die er für sie und ihre Kinder voraussah (s. 23:27–31).
Zumindest eine Zeitlang trug Jesus sein eigenes Kreuz (s. Joh. 19:17); danach wurde ein Simon von Kyrene in Nordafrika, der gerade vorbeikam, von den Soldaten gezwungen, es zu tragen und ihm zu folgen (s. Matth. 27:32; Mark. 15:21; Luk. 23:26). So kamen sie an eine Stätte, die Golgatha (aus dem Aramäischen) oder Kalvarienberg (aus dem Lateinischen) genannt wird — beide Begriffe bedeuten „Schädelstätte“, vermutlich so genannt, weil sie, von manchen Seiten betrachtet, so aussah —, und „kreuzigten. .. ihn daselbst und die Übeltäter mit ihm [die von Matthäus und Markus Mörder genannt werden], einen zur Rechten und einen zur Linken“ (Luk. 23:33; s. Matth. 27:33, 38; Mark. 15:22, 27; Joh. 19:17, 18).
Die Hohenpriester, die durch die Inschrift in hebräischer, griechischer und lateinischer Sprache aufgeschreckt wurden, die Pilatus am Kreuz hatte anbringen lassen, hätten gern gesehen, daß der Wortlaut „Jesus von Nazareth, der Juden König“ abgeändert würde, damit es so aussähe, als wären es Jesu eigene Worte, aber Pilatus blieb bei seiner Entscheidung (s. Joh. 19:19–22).
Die Evangelien beschreiben mehrere kurze Szenen während der ersten drei Stunden am Kreuz, Szenen, die das unendliche Erbarmen des Erlösers der Menschen widerspiegeln. Als er am Kreuz hing, betete er für die, die ihn gekreuzigt hatten: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Luk. 23:34), während ihn die Schriftgelehrten, Priester und Ältesten im Verein mit Soldaten und den Mördern verspotteten und verhöhnten. Wie Lukas berichtet, sprach er jedoch liebevoll zu einem der Mörder, der wegen der Schmähungen, die gegen einen unschuldigen Menschen gerichtet waren, Gewissensbisse bekam (s. Vers 40–43). Er vertraute seine Mutter Maria, die zusammen mit ihrer Schwester Maria, der Frau des Kleopas, und Maria Magdalena beim Kreuze stand, der aufmerksamen Obhut seines Lieblingsjüngers an, wie Johannes berichtet (s. 19:25–27). Die synoptischen Evangelien sprechen davon, daß die Frauen aus einiger Entfernung mit einer Anzahl von galiläischen Nachfolgern des Meisters zusahen (s. Matth. 27:55, 56; Mark. 15:40, 41; Luk. 23:49).
Die Kriegsknechte, die das Urteil an Jesus vollstreckten, machten von ihrem Vorrecht Gebrauch und teilten seine Kleider unter sich auf, doch um seinen nahtlosen Rock warfen sie das Los und ließen ihn, wie er war — eine Tatsache, die von Johannes als eine von vielen Einzelheiten angesehen wurde, die die Schrift erfüllten (s. 19:23, 24; Matth. 27:35; Mark. 15:24; Luk. 23:34; vgl. Ps. 22:19).
Während der restlichen drei Stunden (von Mittag bis drei Uhr, dem Bericht des Markus gemäß) bedeckte eine ungewöhnliche Finsternis das Land, und ein Schrei durchdrang das Dunkel: „Eli, Eli, lama asabthani? das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Siehe Mark. 15:33, 34; vgl. Matth. 27:46; Ps. 22:2; Luk. 23:44.)
Einige, die ihn hörten, glaubten, Jesus rufe Elia, höhnten und warteten, um zu sehen, ob der Prophet ihm zu Hilfe kommen würde. Als er rief: „Mich dürstet!“, wurde ihm ein mit „Essig“ getränkter Schwamm gereicht — wahrscheinlich ein allgemein bekanntes Getränk der römischen Soldaten. Matthäus und Markus sprechen davon, daß er vorher den Wein, dem ein Narkotikum beigemischt war, abgelehnt hatte (s. Matth. 27:34, 47–49; Mark. 15:23, 36; Luk. 23:36; Joh. 19:28–30).
Johannes zufolge (19:30) sagte er dann: „Es ist vollbracht!“ und nach Lukas (23:46): „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt, verschied er.“ So kam das Ende, das in Wirklichkeit aber nur ein Anfang war. Zu jenem Zeitpunkt riß, wie die Evangelisten berichten, der berühmte Vorhang, der das Allerheiligste im Tempel verhüllte, mitten entzwei, ja die Erde bebte. Sogar die römischen Soldaten waren erschrocken und bemerkten: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ (Siehe Matth. 27: 50–54; Mark. 15:37–39; Luk. 23:45–47; vgl. Ps. 31:6.)
Es war nun mittlerweile Freitag drei Uhr nach der Zeitberechnung der Synoptiker, und die Juden waren darauf bedacht, daß die Leichen weggeschafft würden, noch ehe der Sabbat bei Sonnenuntergang begann. Die Kriegsknechte, die die Gefangenen töten sollten, stellten fest, daß Jesus bereits tot war, aber sie öffneten seine Seite mit einem Speer, um ganz sicher zu gehen. Danach ging Joseph von Arimathia, ein geheimer Jünger Jesu, der ernstlich „auf das Reich Gottes wartete“ und der nicht nur als reicher Mann, sondern auch als Ratsherr (d. h. als ein Mitglied des Sanhedrin) beschrieben wird, „ein guter, frommer Mann“, zu Pilatus und bat um den Leib Jesu. Pilatus war überrascht, als er erfuhr, daß Jesus bereits tot war, aber er entsprach der Bitte. Ein Kollege gesellte sich zu Joseph — Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus gekommen war. Sie nahmen den Leichnam, wickelten ihn in eine reine Leinwand mit den Spezereien, die Nikodemus mitgebracht hatte, und legten ihn in Josephs eigenes, neues, unbenutztes Grab, das in einem nahegelegenen Garten in einen Fels gehauen war. Danach wälzte Joseph einen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon (s. Luk. 23:50–54; Matth. 27:57–60; Mark. 15:42–46; Joh. 19:31–42).
Die Frauen, die Jesus aus Galiläa gefolgt waren, kamen, um das Grab zu sehen, und kehrten danach um und bereiteten Spezereien und Salben. In Befolgung des vierten Gebots ruhten sie, bis der Sabbat vorüber war (s. Mark. 16:1, 2; Luk. 23:55, 56).
Unterdessen erhielten die Hohenpriester und die Pharisäer von Pilatus die Erlaubnis, das Grab zu versiegeln und einen Wachtposten aufzustellen, damit die Jünger den Leib Jesu nicht stehlen und dann behaupten könnten, er sei auferstanden (s. Matth. 27: 62–66).
All die Mühe der jüdischen Obrigkeit war umsonst, denn irgendwann am Sonntagmorgen, vor Anbruch der Dämmerung, war der große Stein weggewälzt, und er, den man zu Recht „den Fürsten des Lebens“ (Apg. 3:15) genannt hat, stand von den Toten auf. Matthäus schreibt darüber (28:2, 3): „Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wältze den Stein ab und setzte sich darauf. Und seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Kleid weiß wie Schnee.“
So geschah es denn, daß Maria Magdalena, Salome und Maria, die Mutter des Jakobus — die die Spezereien brachten, um ihn zu salben —, als sie am frühen Morgen zur Grabhöhle kamen und sich noch damit beschäftigten, wie denn der große Stein weggewälzt werden könnte, feststellten, daß er schon beiseite gerollt und das Grab leer war (s. Matth. 28:1, 2; Mark. 16:1–4; Luk. 24:1–3; Joh. 20:1). Die Furcht in ihrem Herzen wurde zur Freude, als ihnen versichert wurde: „Was suchet ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier; er ist auferstanden“ (Luk. 24:5, 6). Allmählich erkannten sie, daß ihr Meister das ihnen gegebene Versprechen tatsächlich erfüllt hatte. Was er zuvor für andere getan hatte, konnte er jetzt an sich selber beweisen — die Kraft und Fortdauer des Lebens.