Die Geschichte von Stephanus, dem ersten christlichen Märtyrer, ist an sich schon interessant und bedeutungsvoll, abgesehen davon, daß sie auch einen Markstein im Leben des Paulus darstellt. In der Apostelgeschichte wird uns berichtet, daß Stephanus einer von sieben Männern war — offenbar Griechen oder griechische Juden durch Abstammung —, die von der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem dazu ernannt worden waren, die Versorgung der bedürftigen griechischen Christen zu übernehmen. Möglicherweise gehörte zu der Versorgung auch Geld, was man aus den griechischen Worten schließen könnte, die mit „zu Tische dienen“ wiedergegeben sind (s. Apg. 6:1–5; vgl. 4:35). Das griechische Wort trapedza — buchstäblich „Tisch“ — bezeichnete das, was wir eine Bank nennen würden, und so wird es auch in Jesu Gleichnis von den anvertrauten Pfunden übersetzt. „Warum hast du denn mein Geld nicht in die Wechselbank gegeben?“ (wörtlich „auf den Tisch“) fragt der Herr den Knecht, der ihm keine Zinsen eingebracht hat (Luk. 19:23). Im Griechischen waren Bankiers oder Wechsler als trapedzitai — „Tischmänner“ — bekannt, weil sie bei der Abwicklung ihrer Geschäfte hinter einem Tisch saßen, so wie Levi der Zöllner am Zoll saß (s. Mark. 2:14).
Stephanus’ Arbeit beschränkte sich wahrscheinlich nicht auf die Verteilung von Unterstützungsgeldern. In der Apostelgeschichte (6:8) wird er hervorgehoben als ein Mensch, „voll Gnade und Kraft“, der „Wunder und große Zeichen unter dem Volk“ tat. Doch seine freundlichen Bemühungen waren nur von kurzer Dauer, denn bald leistete ihm eine Gruppe von Juden Widerstand — Männer aus Kyrene, Alexandria und Cilici-en befanden sich unter ihnen —, zumindest waren einige von ihnen Mitglieder der „Synagoge der Libertiner“, wie sie in der Apostelgeschichte bezeichnet wird (V. 9). „Libertiner“ bedeutet in diesem Zusammenhang „Freigelassene“; viele von ihnen mögen freigelassene römische Gefangene oder ihre Nachkommen gewesen sein.
Daß Cilicien erwähnt wird, ist wichtig, denn aus dieser Provinz stammte Paulus. Wie wir wissen, befürwortete er die Steinigung des Stephanus (s. 8:1), und es ist daher möglich, daß er einer der Cilicier war, die mit Stephanus stritten; doch wir können uns kaum vorstellen, daß er sich zu der Niederträchtigkeit ihrer nächsten Tat herabließ. Als sie feststellten, daß sie gegen die Weisheit und Geistigkeit des Stephanus nicht ankommen konnten, setzten sie sich über das neunte Gebot des heiligen jüdischen Gesetzes hinweg und ergriffen die Waffe der falschen Anklage. Sie schleppten Stephanus vor den Sanhedrin und stellten Zeugen, die bereit waren, dieselbe Klage gegen ihn vorzubringen, die gegen Jesus vorgebracht worden war, nämlich daß er Lästerworte wider das Gesetz und den Tempel gesprochen habe (s. 6:13).
Als Stephanus gefragt wurde, was er zu seiner Verteidigung zu sagen habe, strahlte sein Gesicht so sehr, daß selbst die uninteressierten oder feindseligen Mitglieder des Rates „sein Angesicht wie eines Engels Angesicht“ sahen (V. 15). Saß auch Paulus in jenem Gerichtssaal? Wir haben keinen Beweis dafür. Aber in der Apostelgeschichte wird geschildert, wie Paulus in späteren Jahren sich lebhaft daran erinnerte, was für eine Rolle er bei ebensolchen Begebenheiten spielte: „Ich [brachte] viele Heilige ins Gefängnis ..., wozu ich Vollmacht von den Hohenpriestern empfangen hatte; und wenn sie getötet wurden, half ich das Urteil sprechen“ (26:10).
Die Rede des Stephanus in der Apostelgeschichte 7:2–53 ist sehr interessant; es ist aus ihr zu ersehen, daß er ein gewandter und wirkungsvoller Sprecher war. Sie ist größtenteils ein Rückblick auf die Geschichte des Alten Testaments und erläutert, wie sich Gottes Plan für Israel entfaltete und Seine Verheißung erfüllte, doch gleichzeitig weist er auf die Halsstarrigkeit und den Götzendienst des Volkes hin.
Der Apostelgeschichte gemäß nahm der Jünger zuerst auf Abraham Bezug, den Gründer des hebräischen Volkes, er erwähnte kurz die Rolle Isaaks, Jakobs und Josephs und befaßte sich dann eingehender mit Mose, dem Begründer jenes Gesetzes, das der Sprecher gelästert hatte, wie seine Ankläger meinten. Stephanus beabsichtigte nicht, das Gesetz zu verurteilen oder es gar abzuschaffen, denn er sagte, daß der große Gesetzgeber „Worte des Lebens“ empfangen habe, um sie uns zu geben (7:38). Die Schwierigkeit lag nicht in dem Gesetz, sondern bei denen, die es nicht befolgten.
Bis jetzt hatte Stephanus wenig, wenn überhaupt etwas gesagt, was Feindseligkeit hätte hervorrufen können; als er sich aber der anderen Anklage zuwandte, daß er nämlich die Zerstörung des Tempels vorhergesagt habe, sprach er Worte der Verachtung, nicht der Verteidigung. Die Kinder Israel, so betonte er, hatten eine „Stiftshütte“ (V. 44) benutzt. Später hatte Salomo einen mächtigen Tempel erbaut; doch am Anfang war kein Tempel notwendig. Ja, „der Allerhöchste wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“ (V. 48).
Um sein Argument zu bekräftigen, zitierte er aus dem Buch des Propheten Jesaja (66:1, 2); aber dies schwächt kaum die für jüdische Ohren revolutionäre Art der Erklärung, noch schmälert es den vollendeten Mut des Mannes. Eifrige Anhänger und Beamte des Tempels saßen über sein Leben zu Gericht; in ebendem Augenblick stand er zweifellos innerhalb seiner Mauern und somit in unmittelbarer Nähe des Allerheiligsten; doch er ließ sich nicht herab, einen Kompromiß zu schließen.
Selbst dies war aber nicht der Höhepunkt seiner Rede, denn Stephanus legte ebenso wie Petrus, nachdem dieser den lahmen Mann an der Tür zum Tempel geheilt hatte, seinen Zuhörern den Grund dar für den historischen Rückblick, mit dem er begonnen hatte. Ihre Vorfahren hatten Joseph nach Ägypten verkauft und Mose Widerstand geleistet; nun sagte er: „Ihr widerstrebet allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter so auch ihr.“ Sie hatten das Gesetz nicht eingehalten. Ihre Vorfahren hatten die Propheten verfolgt, die das Kommen des Messias vorausgesagt hatten; doch als er dann schließlich kam, verrieten und töteten sie ihn (s. V. 51, 52; vgl. 3:12–26).
Diese Rede war keine Verteidigung, sie war eine glatte Herausforderung — und sie wurde sofort als solche angenommen. Stephanus unterzeichnete sein eigenes Todesurteil und wurde somit der erste jener christlichen Märtyrer, deren Blut „der Same der Kirche“ genannt wurde.
In kurzer Zeit war alles vorbei. Diejenigen, die Stephanus' Rede gehört hatten, stürzten sich einmütig auf ihn; sie stießen ihn zur Stadt hinaus, gemäß der Bestimmung im dritten Buch Mose (24:14), und steinigten ihn. Wie Jesus, so betete auch Stephanus, daß seinen Mördern vergeben werden möge. „Und als er das gesagt, entschlief er“ (Apg. 7:59). Stephanus, dessen Name „Krone“ bedeutet, hatte das Diadem des Märtyrertums gewonnen.
In diesem Zusammenhang erscheint der Name Saul von Tarsus zum erstenmal im Neuen Testament. „Saulus aber hatte Wohlgefallen an seinem Tode“ (8:1); und uns wird berichtet, daß die falschen Zeugen ihre Kleider zu Saulus' Füßen niederlegten. Dies mag nichts weiter bedeutet haben, als daß sie ihre Oberkleider auszogen, um bei der Steinigung unbehindert zu sein, und daß sie sie zufällig in der Nähe des Paulus ablegten. Andererseits wird in der Apostelgeschichte 22:20 berichtet, daß Paulus sagte, er „verwahrte denen die Kleider, die ihn [Stephanus] töteten“, als ob Paulus die Kleider, die ihm zu Füßen gelegt worden waren, aus irgendeinem Grunde anvertraut worden wären.
Wie aus der Apostelgeschichte hervorgeht, bediente sich Paulus in seiner ersten dort festgehaltenen Rede derselben Art historischer Argumente wie Stephanus (s. 13:16–41). Ein andermal wird uns berichtet, wie Paulus mit Stephanus' eigenen Worten argumentierte: Gott „wohnt nicht in Tempeln mit Händen gemacht“ (17:24). Und in seinem zweiten Brief an Timotheus (4:16) scheint in den Worten: „Es sei ihnen nicht zugerechnet“ die letzte Bitte des ersten Märtyrers widerzuhallen (Apg. 7:60 — n. der Mengebibel): „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!“