Die Franzosen haben eine Redensart, die besagt: Alles verstehen heißt alles vergeben — eine treffende Feststellung in bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen.
In der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjən s’aiəns) können wir die zuverlässigste Grundlage für Vergebung finden: das geistig wissenschaftliche Verständnis vom wirklichen Menschen, das uns, wenn wir es zulassen, dazu verhilft, mehr zu vergeben. Vom Standpunkt dieser Wissenschaft aus gesehen, ist der Mensch die Kundwerdung Gottes und nicht ein Sterblicher, der verletzend oder der Gegenstand von Abneigung oder Mißverständnis sein kann. Wenn wir die Christliche Wissenschaft verstehen und anwenden, tun wir mehr, als diejenigen aus unserem Bewußtsein auszulöschen, von denen wir meinen, daß sie ungerecht zu uns waren, oder einfach diejenigen zu tolerieren, deren Antipathie wir fühlen. Die Christliche Wissenschaft zeigt uns, wie man anderen die Liebe entgegenbringt, die die Liebe, die Gott ist, demonstriert. Diese Liebe unterscheidet sich von der bloßen Bereitschaft, jemanden zu tolerieren, der uns schlecht behandelt hat; sie geht viel weiter.
Der Versuch, jemanden zu lieben, während wir ihn — oder auch uns selbst — noch als einen Sterblichen, ein persönliches Wesen, sehen, kann niemals ganz erfolgreich sein. Eine solche Einstellung ist falsch. Mary Baker Eddy sagt uns in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „Ein gottloser Sterblicher ist nicht die Idee Gottes. Er ist kaum mehr als der Ausdruck des Irrtums.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 289; Sollten wir feststellen, daß es uns praktisch unmöglich ist, einander zu lieben, so heißt das, daß wir uns von der Maske der materiellen Persönlichkeit zur wahren geistigen Identität hinwenden sollten. Wahre Identität, der Ausdruck der Liebe, ist unwiderstehlich liebenswert. Und wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, werden wir durch die göttliche Liebe darin bestärkt und erhalten.
Eine wissenschaftliche Auffassung erhebt uns über den bloßen Versuch, einen Sterblichen zu lieben, den wir als böse ansehen, zu der geistigen Betrachtung des Menschen als Widerspiegelung Gottes. Diese Grundlage schließt ein, daß sowohl die geistige Identität dessen, dem Unrecht getan wurde, als auch dessen, der Unrecht tut, erkannt wird. Als Christus Jesus von seinen Feinden ans Kreuz geschlagen wurde, betete er: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Luk. 23:34; Seine Feinde begriffen weder die Schlechtigkeit ihres Tuns, mit dem sie versuchten, Jesus loszuwerden, noch wußten sie, wer sie selbst wirklich waren; auch erkannten sie nicht die christusgemäße Individualität Jesu. Sie betrachteten ihn lediglich als einen religiösen und politischen Aufrührer.
Eine der strengsten Forderungen, denen wir im Leben gegenüberstehen mögen, ist, immer liebevoll zu sein. Menschlicher Stolz und Egoismus scheinen allzuoft im Weg zu stehen und uns ein Bein zu stellen. In einem hohen geistigen Sinne ständig liebevoll zu sein ist etwas Beachtliches und allzu Seltenes. Aber durch das Leben unseres erhabenen Beispielgebers und Vorbilds, Christi Jesu, können wir Mut fassen.
Durch nachlässigen Gebrauch kann das Wort „Liebe“ abgewertet werden. In unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, wie in der Kirchenarbeit, mögen wir das Wort so oft und leichtfertig benutzen, daß uns sein Sinn verlorengeht und wir seine Forderungen nicht verstehen. „In Liebe“ setzen wir vielleicht unter manche Briefe. Aber wenn wir dieses Wort nachlässig gebrauchen, kann dies dazu führen, daß uns die Worte fehlen, wenn wir wirkliche tief empfundene Liebe zum Ausdruck bringen wollen. Weil Mrs. Eddy die unermeßlichen Dimensionen der Liebe in so außerordentlichem Maße erfaßte, war sie im Umgang mit diesem Wort viel umsichtiger als wohl die meisten von uns. Sie sagt von der göttlichen Liebe: „Welch ein Wort! In Ehrfurcht stehe ich davor. Über was für Welten und aber Welten waltet und herrscht es! Das ursprüngliche, das unvergleichliche, das unendliche All des Guten, der alleinige Gott ist Liebe.“ Vermischte Schriften, S. 249.
Manchmal, wenn wir meinen, wir hätten einem Menschen für eine unfreundliche oder rohe Tat vergeben, und wenn dies nicht von ganzem Herzen und auf geistiger Grundlage geschehen ist, wird uns eine ehrliche Selbstprüfung zeigen, daß diese Vergebung nur eine Form des Eigenlobs war. Vielleicht war es Selbstgefälligkeit, getrieben von einer falschen persönlichen Vorstellung von Demut, die sich dann als Widerspruch herausstellt — ein Grund für die Demut, stolz auf ihre Demut zu sein. Eine Vergebung, die auf einer geistigen Grundlage beruht, segnet ganz allgemein. Sie stärkt unsere Fähigkeit, alle Menschen in ihrem wahren Selbst zu sehen.
Schwelende Ressentiments werden bereitwilliger in dauernde Zuneigung verwandelt, wenn wir der göttlichen Liebe erlauben, unser Denken aus der Welt persönlicher Wesen und Vorgänge in die Wirklichkeit der unendlichen Liebe emporzuheben. Wenn wir starke Abneigung hegen, farbige Kataloge verletzter Gefühle in Gedanken zusammenstellen und auf Vergeltung sinnen, kann uns das gesundheitlichem Verfall aussetzen und für andere Schwierigkeiten anfällig machen. Sollten wir mit irgendwelchen hartnäckigen Problemen zu kämpfen haben, mag es sehr wohl erforderlich sein, daß wir zurückgebliebene Erinnerungen an unglückliche Vorfälle und festverwurzelte Enttäuschungen austilgen.
Wie können wir das bewerkstelligen? Statt verletzte Gefühle aus der Traumwelt des persönlichen Sinnes wieder aufzuwärmen, können wir daran festhalten, daß die einzigen tatsächlichen „Ereignisse“ diejenigen sind, die ihre Wurzeln in der unsterblichen Liebe haben. Alles, was existiert, ist die göttliche Liebe und ihr Allwirken. Wir können das geistig wissenschaftliche Verständnis vom göttlichen All erlangen. Das veranlaßt uns, alles zu vergeben, weil nichts zu vergeben ist. Welch sichrere Grundlage kann Vergebung haben?