Nach den bewegenden Worten im Brief an die Römer (Kap. 1–8) wendet sich Paulus im neunten Kapitel der speziellen Situation seiner Landsleute, „Abrahams: Nachkommen“, zu. Paulus liebte die Menschen seines Volkes und hatte sich ernsthaft bemüht, trotz ihrer andauernden Opposition gegen seine Lehre den christlichen Glauben an sie weiterzugeben. Doch da sie sich weigerten, den Messias und seine Botschaft anzunehmen, schlossen sie sich selbst von der frohen Verheißung des Evangeliums aus. Für Paulus brachte diese Situation „große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlaß“ (V. 2).
Paulus zählt die vielen Besonderheiten auf, die für die Israeliten vorgesehen, aber von ihnen wenig geschätzt worden waren, unter anderem den Bund, das Gesetz, die Verheißungen — ja sogar die Patriarchen und, der menschlichen Abstammung nach, selbst den Messias. Bedeutete nun die mangelnde Empfänglichkeit der Juden, daß die göttlichen Verheißungen für Israel nicht erfüllt würden? Nein, denn wie Paulus in Vers 6 erklärt, umfaßte Israel in gewisser Hinsicht mehr als nur die in das jüdische Volk Hineingeborenen. Das Erbe der Kinder Gottes fällt einem durch Verheißung zu, nicht durch körperliche Verwandtschaft. Und wie es in den Händen des Töpfers liegt, den Ton zu formen, wie er will, so steht es durchaus dem Schöpfer zu, die Heiden (wie auch die Juden) aufzurufen, Sein Heil anzunehmen. Paulus faßt das neunte Kapitel vom Standpunkt seiner Lehre der „Rechtfertigung durch den Glauben“ zusammen. Obwohl die Heiden nicht nach der Gerechtigkeit trachteten, fanden sie sie doch durch den Glauben, während die Israeliten bei ihrem Streben nach Gerechtigkeit versagten, da sie sie durch Werke und nicht durch den Glauben zu erlangen suchten.
Am Anfang des zehnten Kapitels wiederholt Paulus sein großes Anliegen, daß sein Volk das Heil doch noch erlangen möge, aber dies machte ihn ihren Fehlern gegenüber nicht blind. Sie eiferten um Gott, aber „mit Unverstand“. Wer seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten trachtete, erkannte nicht Gottes Gerechtigkeit, in der „Christus ist des Gesetzes Ende... für jeden, der da glaubt“ (10:4 — n. der engl. Bibel). Im Gegensatz zu den endlosen Regeln und Vorschriften, die ein Jude zu befolgen hatte, um des Gesetzes Gerechtigkeit zu erlangen, betonte Paulus die natürliche Einfachheit, mit der die Gerechtigkeit durch den Glauben gefunden werden kann. Seine Worte an seine jüdischen Gefährten in Vers 8–10 lauten: „ ‚Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.‘ Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen... Denn wenn man von Herzen glaubt, so wird man gerecht; und wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.“
Paulus weist jedoch darauf hin, daß die Juden sich eigentlich nicht mit ihrer Unwissenheit herausreden können. Immer wieder hatten die Propheten das Erscheinen des Messias vorausgesagt, aber das Volk beachtete die gute Nachricht nicht. Wie Jesaja sagte (53:1): „Wer glaubt dem, was uns verkündet wurde?“ Die Juden waren ausreichend über den göttlichen Willen informiert worden, doch sie unterließen es, von den Gelegenheiten, ihn auszuführen, richtigen Gebrauch zu machen.
Diese Erörterung führt zu der im elften Kapitel aufgeworfenen Frage: War Israel also insgesamt verstoßen worden? Der Apostel beantwortet diese Frage, indem er auf die bekannte Lehre aus dem Alten Testament über die, die „übriggeblieben sind“, verweist, den gerechten Kern der „Auserwählten“, der selbst dann weiterleben sollte, wenn die anderen versagten. Elia hatte einmal gejammert, er sei der einzige Anbeter des Herrn, der im Land übriggeblieben sei, doch wurde ihm von Gott versichert, es gebe noch weitere siebentausend Menschen, die sich nicht vor dem heidnischen Gott Baal beugten (s. 1. Kön. 19). In ähnlicher Weise gab es jetzt unter den Juden einige übriggebliebene Auserwählte Gottes. Was die Verstoßung des jüdischen Volkes als Ganzes anging, so hatte auch dies einem wichtigen Zweck gedient: es führte zu einem Übergreifen des Glaubens auf die heidnische Welt. Dies mag für die Verstoßenen nur wenig Trost bedeuten. Doch Paulus hoffte, daß sein Wirken unter den Heiden seine Landsleute „eifersüchtig“ machen und vielleicht manche zum Heil führen würde. Und (wie man seine Worte in Vers 15 übersetzen könnte) „wenn ihre Verwerfung die Versöhnung der Welt herbeiführte, wird ihre Annahme wie Leben aus den Toten sein“.
Dann ermahnt jedoch der Apostel — durch den Vergleich mit dem Olivenbaum — die Heidenchristen, daß sie auf ihre Lage nicht übermäßig stolz sein sollten. Ungeachtet aller seiner Fehler bleibe Israel dennoch der zentrale Stamm, auf den die Heiden anstelle der ausgebrochenen Zweige aufgepfropft worden waren. Die Heiden sollten nicht vergessen, daß sie als Zweige nicht die Wurzel tragen; die Wurzel trägt sie. Ja, wenn fremde Heiden erfolgreich auf den Baum Israel gepfropft werden können, sollte es auch möglich sein, vom Baum ausgebrochene Israeliten wieder am Elternstamm weiterwachsen zu lassen.
Paulus war der Ansicht, daß die Verstoßung der Juden nur vorübergehend sei und daß es doch eine sichere Hoffnung auf Errettung für die ganze Welt gebe, für Juden und Heiden gleichermaßen. Mit dieser Aussicht auf universale Errettung schließt der Apostel das elfte Kapitel mit jener schönen Stelle: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!... Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind all Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“
In dem restlichen Teil des Briefes beschäftigt sich Paulus hauptsächlich mit der praktischen Ethik. Im zwölften Kapitel ruft er die Römer auf, ihre Körper darzugeben „zum Opfer, das da lebendig, heilig und Gott wohlgefällig sei“ (V. 1), denn das sei ihre geistige Gottes-anbetung. Er rät ihnen, es nicht dieser Welt gleichzutun, sondern sich durch Erneuerung ihres Sinnes zu verändern. (Hier entspricht das griechische Wort für „verändern“ dem „verklärt“ in Matth. 17:2 und Mark. 9:2.) Und durch die Verwendung des Vergleichs mit dem Körper und seinen Gliedern, den er auch in seinem Brief an die Korinther gebraucht hatte, unterstreicht Paulus die Bedeutung der speziellen Gaben jedes einzelnen Christen — sei es Weissagung, ein Amt oder Lehren.
Die Themen des dreizehnten Kapitels könnten umschrieben werden mit Gehorsam (einschließlich der Frage des Gehorsams gegenüber staatlicher Autorität) und Liebe als den einzig wahren Mitteln, das Gesetz zu erfüllen. Paulus geht im vierzehnten Kapitel auf einen weiteren Punkt über, auf den er die Korinther ausdrücklich hingewiesen hatte: die Christen vermeiden ein Verhalten, das sie zwar als völlig natürlich ansehen, das aber bei ihren Mitmenschen unnötig Anstoß erregen könnte. Bezüglich der unterschiedlichen Meinungen über solche Fragen wie das Essen von Fleisch zeigte sich Paulus tolerant. Er sagte, zeitgemäß formuliert: „Einer meint, er könne alles essen, während ein anderer Gemüse ißt“ (V. 2). Er weist jedoch darauf hin, daß sie alle Mitglieder des gleichen Gemeinwesens seien und deshalb auf einander Rücksicht nehmen sollten, denn „unser keiner lebt sich selber“ (V. 7).
Im fünfzehnten Kapitel kündigt Paulus dann an, daß er den langersehnten Wunsch, Rom zu besuchen, in die Tat umsetzen wolle, doch beabsichtigte er, zuerst die Spenden der heidnischen Kirchen den Christen in Jerusalem zu bringen. Offensichtlich erahnte er schon die Gefahren einer Reise nach Palästina, denn in Vers 30 und 31 bittet er die Kirche in Rom, für seine Errettung „von den Ungläubigen in Judäa“ zu beten. Manche glauben, daß der letzte Vers in Kapitel fünfzehn den Brief an die Römer ganz natürlich abschließe: „Der Gott aber des Friedens sei mit euch allen! Amen.“ Wie wir schon früher gesehen haben, mögen Zweifel bestehen, ob das sechzehnte Kapitel mit seinen vielen Grüßen Teil des ursprünglichen Briefes an die Römer war. Welcher Meinung man sich aber auch anschließen mag, unser Verständnis des Hauptteils des Briefes wird dadurch wahrscheinlich nicht beeinträchtigt. Paulus hatte in diesem seinem längsten Brief gezeigt, daß Juden und Heiden ohne die Botschaft des Christentums gleichermaßen machtlos sind; wenn sie sie jedoch annehmen und sich zu eigen machen, können sie durch nichts in Zeit und Ewigkeit von der Liebe Gottes und dem Heil Seines Christus getrennt werden.