Lieber...,
Du erwähnst in Deinem Brief, Du seiest über den Fortschritt als Mitglied in Deiner Zweigkirche Christi, Wissenschafter, enttäuscht. Du meinst, die Mitglieder schätzten Deine Meinung nicht.
Erinnerst Du Dich an unser Gespräch vor Deinem Kirchenbeitritt und an Deine Frage, wie Du einen besseren Begriff von der Anwendbarkeit der Christlichen Wissenschaft gewinnen könntest? Erinnerst Du Dich noch an die Antwort? Sie lautete: praktische Einübung. Wo kann man besser praktisch verstehen lernen, was es heißt, christusgleich zu sein, als in einer Zweigkirche?
Einige Lektionen scheinen Dir mehr Mühe zu machen, als Dir lieb ist. Aber war das nicht in der Schule genauso? Manche Fächer fielen Dir leicht, andere forderten stundenlange Arbeit, ehe Du auch nur ein einziges Kapitel begreifen konntest. Laß Dich nicht entmutigen! Der Lohn ist oft größer, wenn man ein wenig dafür arbeiten muß. Du bist nicht der einzige, der meint, er mache nicht schnell genug Fortschritte.
Meine Erfahrung als junges Kirchenmitglied war durch den Generationskonflikt bestimmt — „ihr ich, ihr dort“ — anstatt durch das Verständnis von der einigenden geistigen Mission, die die wahre Kirche kennzeichnet. Während einer der ersten Geschäftssitzungen sagte ich, was meiner Meinung nach im Sonntagsschulunterricht falsch sei. Hinterher fragte mich eine ziemlich aufgebrachte Sonntagsschullehrerin, ob ich etwa die Hingabe der Lehrer bei ihrer wöchentlichen Vorbereitung auf die Sonntagsschule in Frage stellte. Ein anderes Mitglied kam dazu und sagte sehr liebevoll: „Das haben Sie doch nicht so gemeint, nicht wahr?“
Diese kleine Begebenheit führte mir den Segen der Kirchenarbeit deutlich vor Augen. Das erste Mitglied zog die Tatsachen, die ich vorbrachte, in Zweifel und wies mich auf die Gefahr der Verallgemeinerung hin. Das zweite milderte die Situation mit Liebe und machte daraus eine Gelegenheit, aus dieser Erfahrung etwas zu lernen. Beide Mitglieder zusammen haben mir den ersten Einblick vermittelt, wie die menschliche Einrichtung „Kirche“ die göttliche Idee „Kirche“ verkörpert, die Mrs. Eddy im Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit, folgendermaßen definiert: „Der Bau der Wahrheit und Liebe; alles, was auf dem göttlichen Prinzip beruht und von ihm ausgeht.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 583. Als ich das nächste Mal auf einer Kirchensitzung etwas sagte, konnte ich meine Bemerkungen mit einem größeren Maß an göttlicher Wahrheit und Liebe vorbringen. Später hatte ich Gelegenheit, in einer Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft zu unterrichten; das lehrte mich, wie wenig Raum hier für bloße Theorie ist. Kinder wollen die praktische Wahrheit; und sie genießen Gottes allumfassende Liebe aus ganzem Herzen.
Zum Glück gaben mich die Mitglieder nicht auf. Ich wurde in ein Komitee gewählt, das sich mit der Erneuerung des Kirchendaches befaßte. Ich hatte einige Kenntnisse auf diesem Gebiet, denn durch meine Arbeit hatte ich mehrmals mit dem Bau von Häusern zu tun gehabt. Aber es zeigte sich wieder einmal, daß geringe Kenntnisse eine Gefahr sind.
Wir sollten Angebote einholen und sie zusammen mit den entsprechenden Informationen den Mitgliedern zur Begutachtung vorlegen. Zum Schluß hatten wir die Kostenvoranschläge von zwei Firmen, doch jede wollte das Problem der Dacherneuerung ganz anders angehen. Nun hatte ich mir irgendwie eingebildet, daß ich für dieses Projekt verantwortlich sei und daher den einen oder anderen Vorschlag unterstützen sollte. Ich entschied mich für die billigere Möglichkeit. Du weißt ja, was dann geschah. Die Mitglieder sahen das anders. Sie entschieden sich für die teurere Lösung.
Das ließ mir lange Zeit keine Ruhe. (Die Lektionen begriff ich damals noch recht langsam!) Schließlich dämmerte mir: Hinter meinem Vorgehen standen Eigenliebe, Eigendünkel und Arroganz. Ich hatte die Mitglieder nicht genug geliebt, um ihrer Inspiration zu vertrauen.
Bald lernte ich, daß die Mitglieder genau die richtige Entscheidung getroffen hatten. Während der Vorbereitungsarbeiten stieß nämlich der Dachdecker auf mehrere morsche Holzbretter und ersetzte sie. Die andere Firma hätte das nicht bemerkt, denn ihr Angebot sah nicht vor, das alte Dach bis zur Holzschalung abzudecken. Für mich war das ein praktischer Beweis, daß sich die Mitgliedschaft einer Zweigkirche an das göttlich Prinzip wenden kann und richtig geführt wird.
Seit der Zeit haben mich viele Erfahrungen gelehrt, daß eine Sache immer gelingt, wenn man — auf Gebet gestützt — liebevoll und ehrlich an sie herangeht. Ob es sich nun um den Kauf einer Orgel handelt, um die Modernisierung der Heizanlage, um Verschönerungsarbeiten oder ob es darum geht, daß ein neuer Weg für die Abhaltung von Kirchensitzungen gefunden werden soll: Alles, was nötig ist, kann erreicht werden, solange sich die Mitglieder vergegenwärtigen, wessen Wille regiert — nämlich Gottes Wille.
Diese Lektionen haben mir sehr geholfen, ein besseres Kirchenmitglied und auch ein besserer Mensch zu werden. Wenn Du an die Kirchentätigkeit mit dem Gedanken herangehst, daß sie die praktische Einübung in die Demonstration der Christlichen Wisenschaft ist, wirst Du geistig bereichert. Davon bin ich überzeugt.
Demut ist der Eckstein alles wahren Lernens — innerhalb und außerhalb der Zweigkirche. Wie oft hast Du wohl schon eine Meinung vertreten, die der Mehrheit entgegenstand? Du glaubtest, eine Änderung der Kirchensatzungen sei ein Fortschritt und werde Dir eine ach so schwere Bürde von den Schultern nehmen? Krause Gefühle sind ein sicheres Zeichen dafür, daß noch immer Eigenwillen am Werk ist. Erkenne das in Dir, und Du hast den ersten Schritt getan, um den Eigenwillen zu überwinden. Komm dann Gott näher. Ich habe festgestellt, daß ich Gott am nächsten bin, wenn ich alle persönlichen Gefühle und allen Stolz aufgebe und sage: „Nun, lieber Gott, was soll ich hieraus lernen?“ Auf diese Weise fangen wir an, Gott allein zu gehorchen. Es gibt keine Verstimmung, wenn es kein Gefühl des Konfliktes gibt — wenn wir akzeptieren, daß das göttliche Gemüt unser Gemüt ist, und den Gedanken zurückweisen, daß das sterbliche Gemüt wirklich sei; wenn wir uns vergegenwärtigen, daß unsere wahre Identität die geistige Idee des Gemüts ist und den einen Willen widerspiegelt. Wie sehr spornt uns doch Jesu Gebet in Gethsemane dazu an, Demut zu erlernen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Luk. 22:42. Angesichts des höchsten Opfers, das unser Meister erbrachte, können wir doch mindestens zu uns als Zweigkirchenmitgliedern sagen: Wenn die Mitgliedschaft das so wünscht, dann will ich es mit unterstützen.
Täglich kommen wir, o Vater,
Offnen Herzens, tatbereit,
Voller Freude zu gehorchen
Deiner Stimme allezeit.Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, Nr. 58.
Dieses herrliche Kirchenlied der Freude ist Ausdruck der völligen Befriedigung, die auch Du fühlen kannst, wenn Du Gott durch unsere Kirche dienst. Und wenn Freude auf Freude und Lektion auf Lektion aufbaut, dann wird Deine Suche nach Deinem wahren Selbst in Christus sicherlich erfolgreich sein. Vergiß nicht, daß ein jeder Schritt nach vorn, jeder überwundene falsche Charakterzug und jede überwundene materielle Vorstellung ein Beweis für die Macht, ja die ausgesprochene Lebendigkeit jener Einrichtung ist, die wir Zweigkirche nennen.