Wenn mich vor gar nicht langer Zeit jemand gefragt hätte: „Lieben Sie das Prinzip?“ hätte ich sicherlich mit der Gegenfrage reagiert: „Das Prinzip lieben? Ich weiß nicht — kann man ein Prinzip lieben?“
Ich habe jedoch in der Christlichen Wissenschaft gelernt, daß Prinzip ein Synonym für Gott ist. In Wissenschaft und Gesundheit, dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, stellt seine Verfasserin Mary Baker Eddy die Frage: „Was ist Gott?“ Und ihre Antwort lautet: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Pr inzip, Leben, Wahrheit, Liebe." Auf der gleichen Seite fragt sie: „Gibt es mehr als einen Gott oder ein Prinzip?“ Und sie antwortet: „Nein. Prinzip und seine Idee ist eins, und dieses eine ist Gott, allmächtiges, allwissendes und allgegenwärtiges Wesen, und Seine Widerspiegelung ist der Mensch und das Universum.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 465.
Lange hatte ich akzeptiert, daß Gott das Prinzip allen Seins ist, ohne mich wirklich damit auseinanderzusetzen, was Mrs. Eddy eigentlich meint, wenn sie Gott als allwirkendes und allwissendes Prinzip bezeichnet.
Andere Synonyme, die uns das Wesen Gottes begreiflich machen, wie zum Beispiel Seele, Liebe, Gemüt, erfüllten mich mit tiefer Freude und großem Frieden. Aber Prinzip beinhaltete für mich etwas Strenges, Unerbittliches und sogar Unerreichbares. Absolutes Prinzip und zärtliche Liebe schienen mir unvereinbar zu sein. Außerdem hegte ich unbewußt den verborgenen Gedanken, daß ich die Forderungen eines vollkommenen Prinzips niemals erfüllen könnte und auch mitunter nicht erfüllen wollte. Ich schien immer eine Entschuldigung oder eine Erklärung für diese oder jene Nachlässigkeit bereit zu haben!
Doch wenn wir uns ständig bemühen, die Lehren der Christlichen Wissenschaft zu erfassen, zu leben und zu demonstrieren, erlangen wir ein umfassendes Verständnis von Gott als Prinzip. Nach und nach lernen wir die Eigenschaften schätzen, die das Prinzip ausdrücken, und wir sehen etwas von seiner großen Ordnung und vollkommenen Struktur. Gründlichkeit, Disziplin, Pünktlichkeit, Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit mögen von einem vergänglichen, sterblichen Sinn verdreht werden, der Genauigkeit als Kleinlichkeit bezeichnet, Ordnung als Pedanterie deklariert und sich selbst als großmütig oder großzügig hinstellt, indem er bereitwillig bestimmte Gesetze und Gebote übersieht oder nicht einhält. Aber wem nützt das? Wem wird dadurch geholfen? Was wird damit erreicht?
In Wissenschaft und Gesundheit lesen wir: „Das Prinzip ist gebieterisch.“ Ebd., S. 329. Aber das Lehrbuch weist auch darauf hin, daß es unendlich segensreich ist, sich diesem allwirkenden und uranfänglichen Prinzip zu beugen und sich ihm unterzuordnen. Alle unsere täglichen Angelegenheiten und Geschäfte sind von diesem einen Prinzip abhängig. Wenn wir diese Tatsache anerkennen und uns bemühen, dementsprechend zu leben, werden unsere Gesundheit und unsere Beziehungen zunehmend harmonisch.
Vor einiger Zeit veranschaulichte mir eine kleine Erfahrung, wie die richtige Anwendung einer Regel vollkommene Arbeit ermöglicht.
Ich hatte begonnen, mir einen Rock zu nähen, und hatte ihn „großzügig“ zugeschnitten. Als ich ihn anprobierte, saß er nicht. Ich änderte hier ein bißchen, da ein bißchen. Aber immer noch fehlte der rechte Chic. Wieder verbesserte ich dies und das — aber vergeblich. Am liebsten hätte ich das angefangene Stück in die Ecke geworfen! Aber aus Erfahrung wußte ich, daß dies keine Lösung war. Mir wurde bewußt, daß ich hier etwas zu lernen hatte — etwas, was nicht das handwerkliche Können betraf.
Mir kam der Gedanke, daß Prinzip, da es gebieterisch ist, absoluten Gehorsam erfordert.
Daraufhin beschloß ich, das Schnittmuster für den Rock hervorzuholen, mich genau daran zu halten und jede Anweisung genauestens zu befolgen. Das Werk gelang zur vollen Zufriedenheit.
Dieser Vorfall brachte eine weit wesentlichere Erkenntnis mit sich. Mir wurde bewußt, wie wichtig es ist, eine Norm — eine Vorlage oder Grundlage — für unser Verhalten zu haben, sie genau zu kennen und gewissenhaft zu befolgen.
Wenn wir uns ehrlichen Herzens die Ergebnisse unserer Gebete anschauen, mögen wir feststellen, daß sie mit den Forderungen des göttlichen Prinzips nicht völlig in Einklang stehen. Doch ist Gehorsam gegen das Prinzip unerläßlich, wenn wir in unseren Angelegenheiten, unserer Umgebung, unserer Gesundheit und unseren Beziehungen zu unseren Mitmenschen Ordnung demonstrieren wollen.
Ein wesentlicher Schritt, dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, zuzugeben, daß es tatsächlich ein allgegenwärtiges, wirkendes, göttliches Prinzip gibt, das das gesamte Universum, einschließlich des Menschen, schafft und regiert. Ja alles, was wirklich existiert, geht vom Prinzip aus und wird durch geistige Gesetze bestimmt.
Der nächste Schritt fordert von uns, zu erkennen, welche Eigenschaften und Wesenszüge das göttliche Prinzip umfaßt. Die uranfängliche und maßgebliche Kraft des Prinzips teilt sich dem Menschen in unzerstörbarer, ewiger Ordnung mit. Das göttliche Prinzip verleiht jeder Idee Struktur, ist unbegrenzt und vielseitig in seinem Ausdruck, doch beständig und dauerhaft.
Einige Menschen sind der festen Überzeugung, daß es nicht möglich ist, die Eigenschaften des göttlichen Prinzips auszudrücken, weil sie sich selbst für begrenzte Sterbliche halten, die Vollkommenheit nicht erreichen können. Doch das Verständnis des Prinzips ist nutzlos, wenn es nicht praktisch angewandt wird. Geistig verstanden, zeigt uns die Bibel, daß Christi Jesu Wirken der Menschheit veranschaulichte, daß alles wirkliche Sein von diesem Prinzip, Gott, ausgeht. Jesus bewies die Wahrheit dieses Prinzips durch das Heilen von Sünde und Krankheit aller Art. In der Bergpredigt sagt er uns: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Mt 5:48. Als Nachfolger Christi Jesu sollten wir seine Lehren annehmen, sie glauben und uns bemühen, ihre Macht zu demonstrieren, so wie er es von uns verlangte.
Wenn wir ein Schnittmuster für ein Kleidungsstück in Betracht ziehen, wissen wir, daß das Ergebnis in vollkommener Übereinstimmung mit dem Muster steht, wenn wir keinen Zentimeter von der Vorlage abweichen. In gleicher Weise können wir sagen: Wenn wir kein Tüpfelchen von den göttlichen Satzungen abweichen, werden wir erleben, daß unsere Gebete und ihre Auswirkungen in Übereinstimmung mit dem Prinzip stehen. Wir werden die Eigenschaften, die das göttliche Prinzip ausdrücken, erkennen und sie uns nutzbar machen.
Wir brauchen die göttliche Ordnung nicht zu schaffen oder zu erhalten; diese Ordnung tut sich durch uns kund. Wir können jedoch erkennen, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, ob wir Ordnung schaffen oder Ordnung in unserem Leben demonstrieren. Wenn wir den Segen der göttlichen Ordnung erfahren haben, erkennen wir ihre unbedingte Notwendigkeit, wir trachten danach, sie zu erfüllen, und lernen sie lieben. Es wird uns bewußt, daß unsere Ordnungsliebe und unsere Fähigkeit, Ordnung auszudrücken, im Prinzip verankert sind.
Man könnte sagen, daß die Grundlagen des Prinzips das Gerüst oder die Struktur bilden, an denen sich die Knospen der göttlichen Liebe und die Zartheit der Seele entfalten können, geradeso wie eine Kletterrose einen festen Halt braucht, um ihre üppige Fülle zu entfalten. Wenn wir das verstehen, sehen wir ein, daß die Forderungen des Prinzips uns nicht einengen oder begrenzen, sondern ein ständiges geistiges Wachstum, Freiheit und Erweiterung erst ermöglichen. So wie Prinzip ohne Liebe hart wäre, wäre Liebe ohne Prinzip schwach oder verweichlicht. Beide Synonyme sind untrennbar miteinander verbunden. Und unsere eigene Liebe zum Prinzip ist der Ausgangspunkt für beständigen geistigen Fortschritt.
