Die Schule des Lebens ist voller Überraschungen. Ich möchte von einer solchen berichten. Vor mehreren Jahren arbeitete ich für einen Reiseveranstalter, der internationale Ferienreisen organisierte. Ich hatte für 350 Vertreter einer bekannten Kapitalgesellschaft eine ganze Reihe von Reisen zusammengestellt. Fast ein Jahr lang war ich mit der Planung, Organisation und Abwicklung dieser Reisen beschäftigt. Als Vergütung sollte ich 50 Prozent des Nettogewinns erhalten. Während jeder Phase dieses Projekts hatte ich gebetet, daß ich Gottes Regierung und Ordnung ausgedrückt sehen möge. Die Reisen waren ein großer Erfolg, und der Kunde war sehr zufrieden.
Nach dem Abschluß der Reisen entdeckte ich jedoch, daß die Buchhaltung meiner Firma unvollständige und ungenaue Aufzeichnungen gemacht hatte. Der Direktor der Gesellschaft wollte nicht zugeben, daß das Projekt Gewinn eingebracht hatte oder daß in diesem Fall nicht richtig Buch geführt worden war. Die finanziellen Diskrepanzen beliefen sich auf mehr als hunderttausend Dollar.
Zunächst geriet ich in Panik. (Ich hatte ein ganzes Jahr lang auf Kreditkarten und Darlehen gelebt, da ich mit dem Erfolg des Projekts gerechnet hatte!) Dann wurde ich ärgerlich, und schließlich war ich verzweifelt. Was sollte ich tun?
Auf der Suche nach einer Antwort wandte ich mich an die Bibel und an Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy. Dabei fiel mein Blick auf eine meiner Lieblingsstellen aus dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft — eine Stelle, die sich schon bei früheren Krisen bewährt und als wahr erwiesen hatte: „Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Not gestillt und wird sie immer stillen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 494.
Eingedenk dieser Tatsache, rief ich einen Ausüber der Christlichen Wissenschaft an und bat ihn, für mich zu beten, während ich mich daranmachte, jede finanzielle Transaktion des vergangenen Jahres zu rekonstruieren. Ich hatte umfangreiche Aufzeichnungen über das Programm gemacht, hatte aber keinerlei Erfahrung in der Buchhaltung, und für die über dreihundert eingenommenen und ausgeschriebenen Schecks fehlten mir die Zahlen. Mein Vorhaben schien unmöglich. Außerdem wollte ich mich auf meine Hochzeit vorbereiten, und die Abende an der Rechenmaschine schienen daher besonders lang.
Aber beim Studieren und Beten hielt ich an der Tatsache fest, daß Gott, Liebe — nicht eine Person oder Firma —, die Quelle meiner Versorgung war. Da meine Versorgung geistig ist, kann sich keine menschliche Person einmischen. Ich wußte aus Erfahrung, daß meine Bedürfnisse immer gestillt wurden — oft auf ungeahnte Weise —, wenn ich mich auf Gott verließ.
Und genau das geschah! Mein Verlobter erhielt ganz unerwartet eine Gratifikation in genau dem Betrag, den meine Firma mir schuldete. Menschlich gesehen, schien das geradezu unheimlich. Aber für mich war es ein klarer Beweis für die allwissende Fähigkeit Gottes, Seine Kinder zu versorgen.
Ich war so dankbar, daß die Christliche Wissenschaft absolut zuverlässig ist! Jetzt konnte sogar alles planmäßig ablaufen. Ich rief den Ausüber an, um mich zu bedanken und ihm mitzuteilen, daß er nicht mehr für mich zu beten brauchte, da die Sache so wundervoll geheilt worden sei.
Aber er war keineswegs beeindruckt und wollte wissen, worin denn die Heilung bestand. Offen gesagt, ich wußte nicht, was er meinte. Ich sagte ihm, so wie ich das sah, sei es ganz einfach: Meine finanzielle Krise war auf völlig unerwartete Weise gelöst worden. Das sei doch eine Heilung, oder?
Auch auf seine nächsten Fragen hatte ich, wie ich meinte, gute Antworten. Als er fragte, ob es denn recht sei, mit der Arbeit aufzuhören, ohne die finanziellen Ungenauigkeiten zu berichtigen, antwortete ich, daß ich keine Gesetze verletzt hätte — schließlich sei das ja nicht meine Buchhaltung.
Als er die Frage der Ehrlichkeit aufwarf, entgegnete ich ihm, daß ich der ehrlichste Mensch sei, den ich kenne. Aber mir kamen Zweifel, ob ich ihn richtig verstand. Er meinte, ich erwartete offenbar, daß Gott, das göttliche Prinzip, mich verteidige. Aber was, genau genommen, täte denn ich, um das Prinzip zu verteidigen? Nichts, das mußte ich zugeben.
Ich hatte gemeint, daß ich aufrichtig gebetet hatte, und ich war so überzeugt, daß die unerwartete Gratifikation die Antwort auf mein Gebet war. Aber nachdem ich etwas Abstand von der Sache gewonnen hatte, wurde mir klar, daß ich in meinem Gebet persönliche Interessen verborgen hatte. Ich machte mir weniger über das göttliche Gesetz Gedanken als über die Bezahlung meiner Rechnungen; ich war weniger an Gottes Lösung interessiert, als daran, pünktlich vor den Traualtar zu treten. Ich benutzte die richtigen Worte, aber anstatt mich von ihnen ergreifen und informieren zu lassen, ergriff und informierte ich sie — ich legte sie meinen Wünschen entsprechend aus. Die wahren Worte waren noch nicht wirklich wahr für mich — im Sinne einer lebendigen Wahrheit —, denn mir entging der Geist, der sie erfüllte, und „der Geist ist's, der lebendig macht“ Joh 6:63.. Zwar paßten die Zitate zu meiner Situation und schienen die geistigen Erkenntnisse echt zu sein, aber ich hatte zugelassen, daß meine persönlichen Wünsche meine Gebete färbten. In meiner „wunderbaren Demonstration“ hatte ich tatsächlich das grundlegende Problem einer ehrlichen Buchführung für das ganze Projekt umgangen.
Der Ausüber aber hatte nicht dafür gebetet, daß „meine Seite“ gewinnt. Die Wahrheit ist unparteiisch. Und das ist wahres Gebet auch. Wenn wir anerkennen, daß es nur einen guten, universalen Gott gibt, werden wir von Eigeninteressen frei, und das göttliche Gesetz hat Gelegenheit, in unserem Leben tätig zu werden. Das bringt Änderungen mit sich, die alle segnen.
Ich saß also wieder an der Rechenmaschine und begann, von einer breiteren Grundlage aus zu beten. Ich dachte wieder über den Satz nach: „Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Not gestillt und wird sie immer stillen.“ Das Zitat war das gleiche, aber ich hatte mich gewandelt. Statt von den Worten die Lösung meines Problems zu erwarten, bemühte ich mich mehr um ein Verständnis dieser Worte, das mein Eigeninteresse auflösen und dadurch zur Heilung der Situation beitragen würde.
Während der sechs Wochen, die ich brauchte, um die finanziellen Transaktionen zu rekonstruieren, dachte ich oft an Psalm 138:8: „Der Herr wird meine Sache hinausführen.“ Die Bilanz war hieb- und stichfest — ohne Zweifel.
Der Direktor der Gesellschaft war allerdings nicht so überzeugt wie ich. Unsere dritte Besprechung brach er mit einer wegwerfenden Handbewegung ab und meinte, ich könne ihn ja verklagen.
Jetzt mußte ich über mein rein intellektuelles Verständnis von Gott hinauswachsen. Ich mußte Seine Herrschaft in dieser Situation erkennen. Ich mußte wissen, daß Gottes Gesetz über allem steht und jeden der Betroffenen direkt regierte. Ich betete um die Erkenntnis, daß weder die persönliche Ansicht des Direktors noch meine eigene in der Waagschale des göttlichen Gesetzes Gewicht hatte. Wahrheit erzwingt das Rechte absolut — und das ist Gesetz.
Ich bat um ein weiteres Gespräch mit dem Direktor, bei dem auch der stellvertretende Vorsitzende zugegen sein sollte. Als ich in die Besprechung ging, klammerte ich mich nicht an die Worte, die ich studiert hatte, sondern an das göttliche Etwas, das dahinterstand. Ich fühlte, wenn auch nur ein bißchen, die Gegenwart und Macht Gottes, der Wahrheit, die alle persönlichen Kräfte ausschaltet.
Als es so aussah, als ob ich zum vierten Mal eine Absage erhalten würde, hielt der Direktor plötzlich inne. Seine Einstellung änderte sich um hundertachtzig Grad. Er erkannte die Gültigkeit meiner Abrechnung an und erklärte sich bereit, den mir zustehenden Betrag zu zahlen. Ich verließ an jenem Nachmittag die Firma mit einem Scheck in der Hand.
Etwa eineinhalb Jahre später konnte die Firma, die die Reisen seinerzeit gebucht hatte, aufgrund meiner Abrechnung die Rückzahlung von fast achtzigtausend Dollar an zuviel geleisteten, nicht zurückerstatteten Anzahlungen erwirken.
Diese Erfahrung enthielt viele wundervolle Lehren für mich, und auch einige Überraschungen. Doch eine Lehre hat mich seitdem zu beständiger Selbstprüfung angeregt. Sie hat mit dem Rat des Johannes zu tun: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“ 1. Joh 4:1.
Wie oft tun wir etwas in dem „Bewußtsein“, daß es richtig ist, wenn doch der Anlaß dazu überhaupt nicht geistig ist? Vielleicht handeln wir in Übereinstimmung mit etwas, was wir von Gott, Geist, hören möchten, oder vielleicht sehen wir einfach nicht klar genug das Gute in einem größeren Zusammenhang.
Es kommt einem manchmal so vor, als ob es für jeden Anlaß ein passendes Zitat gäbe und als könnten wir immer gerade das richtige finden, um unsere Wünsche und unser Verhalten zu rechtfertigen. Aber wir sollten daran denken, daß man das Gebet nicht immer nach der Richtigkeit der Worte beurteilen kann. Wie prüfen wir dann den Geist unserer Gebete?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt keine Formeln für das Beten; es führt keine Schnellstraße zur geistigen Erkenntnis. Aber aus eigener Erfahrung kann ich den folgenden Hinweis geben: Je mehr ich meinen Standpunkt gegenüber anderen mit Zitaten aus der Bibel oder aus Mrs. Eddys Schriften verteidige — ob im stillen oder hörbar —, um so notwendiger ist es, meine eigenen Motive daraufhin zu prüfen, ob sie eigennützig sind, und in meinem tiefsten Innern nach dem heilenden Geist der Worte zu forschen.
Wahre Worte, die geäußert, aber nicht gelebt werden, sind nicht wahr im Sinne der lebendigen Wahrheit. Ich liebe das folgende Zitat aus Wissenschaft und Gesundheit: „Die Frage: Was ist Wahrheit? wird durch Demonstration beantwortet — durch das Heilen von Krankheit wie von Sünde; und diese Demonstration zeigt, daß das christliche Heilen die beste Gesundheit verleiht und die besten Menschen hervorbringt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. viii.
Eine solche Demonstration liegt jenseits der Fassade von Worten: Sie ist der lebendige Zeuge der Macht und Gegenwart des Christus in menschlichen Angelegenheiten. Und diese Macht und Gegenwart bringt in unser Leben das christliche Heilen, das für sich selber spricht.
