Weihnachten wurde bei uns immer bei unserer Oma gefeiert. In der letzten Dezemberwoche kam dort die ganze Familie zusammen. Ganz gleich, in welcher Stadt wir wohnten, wir fuhren „heim“ nach Pittsburgh. Es war dunkel und spät, wenn die Scheinwerfer unseres Autos die Auffahrt erhellten und Vati sagte: „So, da sind wir.“ Schlaftrunken stolperten mein Bruder und ich, manchmal durch frischen Schnee, in die Küche mit dem großen runden Eichentisch. Zuerst gab es einen Kuß von Oma, dann Umarmungen, riesige Tassen Kakao, das Versprechen, daß wir am nächsten Morgen Tante Leely besuchen und beim Plätzchenbacken helfen würden. Dann ging es endlich hinauf in unsere eiskalten Betten. In der Ferne konnten wir das unheimlich anmutende Rattern der Frachtzüge hören, die in der Nacht den halbgefrorenen Allegheny entlangfuhren.
Die nächsten Tage waren angefüllt mit Verwandten, die sagten: „Bist du aber groß geworden!“, mit Gelächter und geselliger Unterhaltung, mit vielen Päckchen, auf die man heimlich einen Blick warf, und mit der Zubereitung von Popcorn, mit dem der Weihnachtsbaum, eine riesige Blautanne, geschmückt wurde.
Als wir die Weihnachtslieder auf Tante Leelys Klavier spielten, beschäftigten mich zwei Fragen: Warum mußten wir zu dieser Jahreszeit immer mit den Verwandten zusammensein? Und was hatte das wirklich mit den Hirten und den Engeln und der Geburt des Jesuskindes zu tun?
Als ich fragte, warum wir alle bei Oma zusammenkamen — ich wußte, daß einige der Erwachsenen nicht gern kamen, denn ich hatte selbst gehört, wie sie es sagten —, antwortete Mutter: „Wenn du älter bist, wirst du es verstehen. Wir kommen, um Oma und Opa eine Freude zu bereiten. Weihnachten bedeutet, mit der Familie zusammenzusein und Menschen zu lieben, ob man sie nun besonders mag oder nicht. Weißt du, das gehört nämlich dazu, ein Christ zu sein.“
Nein, das wußte ich nicht. Ich wußte nicht, daß es so einfach war.
„Denk an die Bergpredigt. Im Grunde handelt sie davon, Gott und einander zu lieben.“
Über die ganze Bergpredigt auf einmal nachzudenken kam mir ein bißchen viel vor. Aber nach einer Weile konnte ich verstehen, was meine Mutter meinte — wenigstens ein bißchen. Christus Jesus sagte eine Menge darüber, wie man mit Verwandten auskommen kann. Er sagte: Du bist glücklicher, wenn du versuchst, Frieden zu schließen; verurteile andere Menschen nicht, und ärgere dich nicht über sie. Er sagte: Begehre nicht Dinge, die einem anderen gehören, tue anderen Gutes, und vergib ihnen, wenn sie dir nichts Gutes tun. Paß auf, wo du dein Haus baust, damit es von einem Sturm nicht zerstört werden kann. Und Jesus sagte: Gib Gott alle Ehre. (Siehe Matthäus, Kap. 5—7.)
In der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft hatte ich die Zehn Gebote und die Seligpreisungen gelernt, die Christus Jesus seinen Nachfolgern gab. Ich wußte, daß schon seit beinahe zweitausend Jahren andere Menschen und Familien in anderen Ländern Jahr um Jahr seinen Geburtstag gefeiert hatten. Aber außer daß sie an Weihnachten Weihnachtslieder sangen und Oma vielleicht die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorlas, sprachen meine Verwandten sehr wenig darüber, wie wichtig Christus Jesus war.
„Warum ist das Jesuskind so wichtig?“ fragte ich meine Großtante Leely einmal, als ich in ihrem Teil des Hauses war und versuchte, auf dem Klavier die Noten für die linke Hand von „O heil’ge Nacht“ zu lernen.
„Um Himmels willen, Kind, frag deine Mutter“, sagte sie. „Aber ich sage dir, was ich glaube. Jeder ist mit all der Werbung und der Schenkerei so sehr beschäftigt, daß er wahrscheinlich vergißt, was Weihnachten wirklich bedeutet.“
„Tante Leely, war das Jesuskind unser, lieber Heiland‘, wie es in, O heil’ge Nacht‘ heißt? Was ist ein Heiland?“
„Frag deine Mutter.“
Ich fragte sie. „Mutter, war Jesus unser Heiland? Was ist ein Heiland?“
„Jemand, der andere Menschen rettet. Jesus kam, um uns davor zu bewahren, uns und anderen wehzutun. Er sagte uns, daß Gott immer bei uns ist und unser Vater und sein Vater ist.“
„Ich dachte, das war Josef.“
„Josef kümmerte sich um Jesus wie ein Vati. Aber Vater, Gott, ist etwas anderes.“
„Wie, Unser Vater, der du bist im Himmel‘ im Gebet des Herrn? So? Und was noch?“
„Nun, Jesus ist unser Heiland, weil er uns gezeigt hat, wie wir leben und beten sollen, wie wir einander lieben sollen und sogar wie wir heilen können. Verstehst du das?“
„Nicht ganz.“
„Irgendwann wirst du es verstehen.“
„Irgendwann“ scheint immer in weiter Ferne zu liegen. Aber in der Sonntagsschule lernte ich beten, und das gefiel mir. In Wissenschaft und Gesundheit (das ist Mrs. Eddys Buch; dieses Buch und die Bibel lesen wir in der Sonntagsschule) heißt es, daß wir nicht durch Beten allein Gott verstehen können, aber Beten und der Wunsch, Ihm zu gehorchen, helfen. Mrs. Eddy sagt, man soll nicht viel darüber reden, daß man gut sein oder Gott verstehen möchte. Sie sagt: „Es kommt am besten im Denken und im Leben zum Ausdruck.“
Ich dachte, daß die Hirten und die Heiligen Drei Könige vielleicht nicht viel über Jesus wußten. Und sogar die Jünger, die Jesus nachfolgten und auch zu lehren und zu heilen anfingen — vielleicht verstanden nicht einmal sie ganz, wer er war, oder alles, was er sagte. Aber dennoch mußten sie den Wunsch gehabt haben, bessere Menschen zu werden und zu verstehen, warum Gott Seinen Sohn gesandt hatte. Es muß eine wunderbare Botschaft für sie gewesen sein, daß Gott der wirkliche Vater eines jeden ist und daß Jesus kam, um allen zu einem besseren Leben zu verhelfen.
Als ich in der achten Klasse war, kam ich zu dem Schluß, daß Familientreffen gut waren, denn man konnte dort versuchen, sein Gebet praktisch anzuwenden. Und außerdem: Vielleicht hatten sich sogar die Menschen geändert, die man nicht besonders leiden konnte, oder vielleicht hatte man sich selbst geändert. Und Oma und Opa zu ehren war bestimmt gut.
Manchmal stellte ich mir vor, daß wir auf unseren Familientreffen zu Weihnachten Szenen aus der Bibel spielten, so wie Kinder in einer Schulaufführung die Verse aus dem Lukasevangelium spielen: „Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde ... Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird ... Die Hirten [sprachen] untereinander: Laßt uns nun gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ „Da kamen Weise aus dem Morgenland nach Jerusalem“, heißt es bei Matthäus. „Und siehe, der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war.“
Ich stellte mir Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel als Hirten und Weise aus dem Morgenland und als Gäste in der Herberge vor, wie sie die Nachricht vom Friedefürsten hörten. Zuerst mußte ich lachen, wenn ich mir den lauten Onkel Elmer als einen der Weisen vorstellte, der Weihrauch brachte. Aber als wir Weihnachtslieder sangen und seine tiefe rauhe Stimme den Baß übernahm, kam mir der Gedanke, daß er sich wahrscheinlich auf seine eigene Weise Gott nahe fühlte. Als ich beschloß, daß mein Vati wahrscheinlich die Rolle des Wirts übernehmen könnte (er hätte auch sein Bestes getan, um einem jungen Paar zu helfen, das eine Unterkunft für die Nacht brauchte), liebte ich auch meinen Vati ein bißchen anders.
So wurde unser jährliches Familientreffen an Weihnachten — für mich zumindest für eine Weile — eine Art Symbol für die Reise nach Bethlehem. Es zeigte, daß wir alle froh waren, den einen Vater zu haben, und daß wir Liebe erwarteten, wo immer wir uns befanden. Ich begann zu verstehen, daß wir jedesmal, wenn wir nach Hause (nach Bethlehem) reisten, ganz gleich, ob wir aus Pittsburgh, Prag oder Paris kamen, ein bißchen mehr darüber herausfinden konnten, warum Jesus unser Heiland ist und wie wir lernen können, einander mehr zu lieben.
