Viele Von Uns sind überzeugt, daß sie rücksichtsvoll und freundlich sind und eine liebenswürdige Art haben, was das Geben betrifft. Aber sind wir ebenso liebenswürdig, wenn wir Empfänger sind? Schließlich ist doch das Nehmen gewöhnlich leichter als das Geben, nicht wahr? Nein, nicht immer!
Die Kunst gütigen Gebens spielt im Christentum eine wichtige Rolle — wie die Apostelgeschichte zeigt. Dort sagt Paulus, indem er auf die Lehren Christi Jesu Bezug nimmt: „Geben ist seliger als nehmen.“ Apg 20:35. Durch Geben und Teilen werden wir uns Eigenschaften wie Freundlichkeit und Rücksichtnahme stärker bewußt.
Und doch besteht Hand in Hand mit dem Geben die Notwendigkeit, die Segnungen, die wir empfangen haben, liebevoll entgegenzunehmen. Unabhängig von unseren menschlichen Umständen gibt es stets in irgendeiner Form Gutes, das wir dankbar anerkennen können. Gott ist die wahre Quelle alles Guten. Dies anzuerkennen und Seine Güte freudig und dankbar anzunehmen ist daher wichtig. Das Gute, das wir erleben, ist der greifbare Ausdruck der immergegenwärtigen Fürsorge Gottes.
Manchmal jedoch treten Dinge, die wir unseres Erachtens dringend brauchen, oder Gelegenheiten, die uns vielleicht am meisten nützen würden, anders in Erscheinung, als wir uns das menschlich vorgestellt haben. Deshalb kann es vorkommen, daß wir sie nur zögernd ergreifen und nutzen. Aber wir können uns darauf verlassen, daß Gottes Güte stets den Ausdruck findet, der unseren Bedürfnissen am besten entspricht, und das dankbare Anerkennen dieser Tatsache fördert unser geistiges Wachstum.
Ein Erlebnis mit einer Verwandten war mir eine wertvolle Lehre, was das Geben und das Nehmen betrifft. Diese Lehre hatte viele Aspekte; und jeder verhalf mir zu Gedanken, die sich als wichtig für mein geistiges Wachstum erwiesen. Es war fast wie ein Schneeball, der klein beginnt und beim Rollen im Schnee immer größer wird und immer mehr in Fahrt kommt.
Die Verwandte war sehr selbstlos. Ihre Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer galt unter ihren Freunden und in ihrer Familie als beispielhaft. Aber ihre Liebenswürdigkeit — oder, besser gesagt, der völlige Mangel an Liebenswürdigkeit —, wenn sie der Empfänger war, führte zu manchem Kummer. Oft war ich verzweifelt und sogar verärgert, wenn Versuche, ihr eine Freude zu bereiten, schroff zurückgewiesen wurden. Mehr als einmal ließ ich Gelegenheiten, ihr eine Aufmerksamkeit zu erweisen, ungenutzt verstreichen, weil ich nicht streng zurechtgewiesen werden wollte.
Dennoch wollte ich ihr zeigen, wie sehr ich sie mochte. Paulus schrieb an die Korinther: „Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb“ 2. Kor 9:7., und ich wollte so gern ein fröhlicher Geber sein. Ich wußte, daß ich ein Recht darauf hatte und auch Freude beim Empfänger erwarten konnte.
Im Gebet wurde mir klar, daß nichts mir die Freude nehmen konnte, die Selbstlosigkeit mir bereitete; auch konnte diese liebe Verwandte nicht anders, als die Liebenswürdigkeit und die Zärtlichkeit zum Ausdruck zu bringen, die als Gottes Kind zu ihr gehörten. Ich entdeckte, daß mein eigenes Verhalten in anderer Hinsicht weniger barsch wurde, als ich anerkannte, daß Liebenswürdigkeit eine jedem innewohnende Eigenschaft ist. Ich merkte, daß ich selbst freundlicher sein mußte. Oft befaßte ich mich mit einer Stelle aus dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, wo Mary Baker Eddy über Gebet sagt: „Am meisten bedürfen wir des Gebetes inbrünstigen Verlangens nach Wachstum in der Gnade, das in Geduld, Sanftmut, Liebe und guten Werken zum Ausdruck kommt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 4. Ich lernte in dieser Zeit besser verstehen, was Gnade ist, und es erwies sich als eine gute Gelegenheit, mehr Geduld zu zeigen.
Aber ich hatte noch mehr zu lernen. Das Bestreben, mehr Rücksichtnahme zum Ausdruck zu bringen, blieb nicht nur auf meine Verwandte gerichtet. Es wurde für mich immer natürlicher, mir zu überlegen, was ich tun könnte, um allen Menschen Freundlichkeit entgegenzubringen. Es war fast ein Gefühl der Befreiung. Mein Horizont hatte sich erweitert und schloß nun alle ein, die ich kannte — und viele, die ich nicht kannte. Es wurde mir wichtig, meine Umgebung und sogar die Welt in meine Gebete einzuschließen und sie zu unterstützen.
Dabei blieb es aber nicht. Ich wurde mir immer stärker bewußt, daß ein größeres, geistiges Wahrnehmungsvermögen nötig war. Damit meine ich die Fähigkeit, zu erkennen, was ein anderer wirklich braucht. Es ist ein intuitiver geistiger Sinn, der über den starken Wunsch, anderen zu helfen, hinausgeht und der uns zu den Worten oder Taten führt, die in einer gegebenen Situation am dringendsten gebraucht werden. Es ist eine wunderbare Eigenschaft. Als ich diese geistige Erkenntnisfähigkeit mehr zum Ausdruck brachte, wurde mir klarer, daß stilles Lauschen der erste Schritt ist, wenn wir uns anderen zuwenden. Das war sehr aufschlußreich. Geistiges Wahrnehmungsvermögen, ausgedrückt durch Geben, macht es uns möglich, das menschliche Bild zu durchschauen und das wirkliche Bedürfnis wahrzunehmen. Es ist ein wertvolles Werkzeug der Nächstenliebe, und ich war dankbar, das in gewissem Grade erkannt zu haben.
Mein Nachdenken über dankbares Annehmen führte mich dazu, zu prüfen, wie ich selber das Gute entgegennahm, das mich ja überall umgab. Das Ergebnis dieser Selbstprüfung war unerfreulich; es zeigte sich, daß in etlicher Beziehung Gebet nötig war.
Wie oft sind wir geneigt, über die vielen Beweise der Güte Gottes hinwegzugehen, indem wir uns auf die Probleme konzentrieren, die der menschlichen Situation eigen sind! Nicht, daß die Probleme unwichtig wären oder ignoriert werden sollten. Aber das Grübeln über eine Schwierigkeit macht uns leicht blind für die geistigen Eigenschaften und Ideen, die stets zur Hand sind, um die unharmonische Lage zu beruhigen und umzukehren. Erkennen wir diese geistigen Wahrheiten bereitwillig — und sanftmütig — an? Oder ist es einfacher, die Disharmonie weiterhin für wirklich zu nehmen? Mit anderen Worten: Ignorieren wir manchmal das gegenwärtige, unendliche Gute Gottes, wenn wir mit unharmonischen Situationen konfrontiert werden, die sehr wirklich scheinen?
Dieser Punkt wurde durch meine Erfahrung veranschaulicht, als ich über das Problem mit meiner Verwandten betete. Ich bemühte mich, beim Geben gelassener und freudiger zu sein und mehr Liebenswürdigkeit von meiner Verwandten zu erwarten, wenn sie die Empfängerin war. Dabei wurde mir etwas Interessantes klar — nämlich, daß ich selbst besser lernen mußte, etwas entgegenzunehmen. Und die ganze Zeit hatte ich das für das Problem einer anderen Person gehalten!
Am nötigsten schienen mir die Anerkennung und dankbare Annahme all des Guten, das in meinem Leben bereits reichlich vorhanden war. Der Psalmist sang: „Der Herr gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.“ Ps 84:12. Dieses Gute steht jedermann zur Verfügung, und den individuellen Bedürfnissen entsprechend tritt es in Form greifbarer Ideen in Erscheinung. Aber es muß erkannt und anerkannt werden, bevor die Segnungen sichtbar werden können.
Durch Gebet bekam meine Empfänglichkeit für freundliche Handlungen eine neue Dimension, und ich nahm Zeichen der ständigen Fürsorge Gottes besser wahr. Menschliches Planen, das ja oft in Enttäuschung endet, wurde durch ein tieferes und dankbareres Bewußtsein davon ersetzt, daß Gott uns in reichem Maße mit allem Guten versorgt. Ich lernte, ein dankbarer Empfänger zu sein, und dabei hatte ich die ganze Zeit angenommen, dies sei etwas, was ich jemand anderem beizubringen hätte! Die Erkenntnis, daß ich selbst konsequenter Freundlichkeit zum Ausdruck bringen mußte, hat mich demütig gemacht. Aber es war, als würde man die Fensterläden aufschlagen, um den Sonnenschein in einen Raum hereinzulassen; das helle Licht umflutete sowohl mich als auch meine Verwandte.
Es fiel mir nun leichter und machte mir mehr Freude, dieser lieben Person etwas zu schenken oder ihr eine Freundlichkeit zu erweisen; und bei ihr war ein neues Gefühl der Wertschätzung nicht zu verkennen. Das beste waren jedoch die Lektionen, die ich lernte — ein tieferes Bewußtsein von der Liebe Gottes zu allen Seinen Kindern und ein inspiriertes Verständnis davon, was wahre Güte wirklich ist.
Das Gesetz des Geistes,
der lebendig macht in Christus Jesus,
hat dich frei gemacht von dem Gesetz
der Sünde und des Todes.
Römer 8:2