Ein Christliches Leben hat sich schon immer in erster Linie durch eins ausgezeichnet: eine grundsätzliche Berufung zum Lieben — zum Lieben, wie es der Erlöser getan hat. Jesus erklärte seinen Nachfolgern, daß die Welt sie besonders an dieser christlichen Liebe erkennen würde. „Ein neues Gebot gebe ich euch“, sagte er, „daß ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Joh 13:34, 35.
Und doch erfuhren die Jünger durch Jesu Beispiel, daß gegenseitige Fürsorge in vieler Hinsicht nur der Anfang ist. Sie mußten auch Gott von ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Gemüt lieben. Sie mußten die ganze Menschheit „wie sich selbst“ lieben.
Um dem gerecht zu werden, muß die Liebe des Christen bedingungslos zum Ausdruck gebracht werden, ohne daß man persönlichen Gewinn oder einen Lohn dafür erwartet. Sie muß ausnahmslos freigebig sein, unbeeindruckt von Rang oder Namen, unbehindert von Klasse oder Rasse, unbesorgt um die Ergebnisse. Die Liebe, die der Christ zum Ausdruck bringt, muß rein, spontan und kindlich sein. Sie muß trösten und heilen. Sie muß allumfassend sein.
Diese alles umfassende Liebe stellt für die Christenheit nicht nur eine der größten Verheißungen dar, sondern auch eine der größten Forderungen. Denn so zu lieben, wie Christus Jesus es lehrte, bedeutet, daß wir nicht nur Nachbarn, Freunde und Glaubensgenossen in diese Liebe einschließen, sondern auch Gegner und Nichtgläubige. Der bekannte britische Autor und Essayist G. K. Chesterton bemerkte einmal, seiner Meinung nach habe „Christus uns deshalb aufgetragen, unseren Nächsten und unsere Feinde zu lieben, weil beide zweifellos oft identisch sind“ Context, 15. März 1992.. In Situationen, in denen wir die Zartheit und das Mitgefühl Christi zum Ausdruck bringen, ist eine sorgfältige Abgrenzung zwischen denen, die unserer Liebe würdig sind, und denen, die es nicht sind, völlig unannehmbar.
Jesus führte seinen Jüngern das allumfassende Wesen christlicher, heilender Liebe vor, als er ebenso selbstverständlich den Zöllner, die im Ehebruch ergriffene Frau und den ausgestoßenen Aussätzigen in seine geistige Fürsorge mit einbezog wie seinen Freund Lazarus oder Angehörige seiner engsten Jünger, so etwa die Schwiegermutter des Petrus. Der heilende Balsam, diese Berührung durch den Christus, stand ihnen allen in überreichem Maße zur Verfügung.
Und doch fällt es den meisten von uns als Christen nicht immer leicht, diesen Auftrag, so zu lieben, wie Jesus es getan hat, auch zu erfüllen, nachdem wir seine Berechtigung und die Verantwortung, die für uns damit verbunden ist, einmal anerkannt haben. Wie sollen wir denn dieses Wunderbare nur fertigbringen? Und nicht nur das. Wie können wir überhaupt diese Berufung zu lieben spüren?
Die Christliche Wissenschaft gibt uns eine geistige Erklärung für den Ursprung der Liebe und hilft uns, ihre praktische Auswirkung auf die menschliche Erfahrung zu verstehen. Dabei geht es allerdings nicht um eine klinische Analyse, sondern um die lebendige Wahrheit, die das christliche Bemühen mit Vitalität, Freude und Spontaneität erfüllt.
Die Wissenschaft Christi bezeugt, daß selbst dort, wo menschliche Liebe kläglich versagt, immer mehr als genug göttliche Liebe da ist, um die menschliche Not zu stillen. „Göttliche Liebe“ ist in der Tat eine Bezeichnung für Gott, und das Wissen, daß Gott Liebe ist, offenbart uns eine wahrhaft unerschöpfliche Quelle der Versorgung für unsere eigene Demonstration der Liebe.
Wenn wir uns bei dem Versuch, Freunde wie Feinde zu lieben, ausschließlich auf menschliche Herzenswärme und menschliche Zuneigung verlassen müßten, so würden wir unser Ziel zweifellos nicht erreichen. Wir könnten bei diesem Unterfangen unsere Kräfte verbrauchen, wenn nicht sogar selbst Schaden erleiden. Wenn wir uns aber statt dessen ausschließlich auf die göttliche Liebe und ihr Gesetz verlassen, das unaufhörlich zum Ausdruck kommt, werden wir merken, daß stets mehr als genug für uns da ist, um individuell und allumfassend zu handeln ohne Ermüdung, Kraftverlust oder Abkühlen der Gefühle. Die göttliche Liebe, die Gott ist, kann aufgrund ihres Wesens nie weniger als unendlich sein. Daher müssen wir, wenn wir wirklich die Schöpfung Gottes sind, an ebendieser unendlichen Liebe teilhaben und sie zum Ausdruck bringen. Die Schöpfung der Liebe bringt den Schöpfer zum Ausdruck, wie die Bibel lehrt. Der geistige Mensch, unser wahres Sein, ist die Widerspiegelung Gottes, die Widerspiegelung der Liebe.
Liebe geschieht also nicht durch uns. Liebe ist der Grund unseres Daseins; wir leben, um Liebe zu sein. Und indem wir dieses geistige Wissen um unsere Identität erlangen, entdecken wir die uns allen angeborene Fähigkeit, all das zu leisten, was Jesus seinen Nachfolgern aufgetragen hat. Im Gebet und durch den geistigen Sinn spüren wir diese Liebe ebenso, wie wir alles andere spüren, was unsere wahre Substanz darstellt. Wenn Liebe uns als das charakterisiert, was wir wirklich sind, dann können wir nicht anders, als Gottes Fürsorge für uns zu erfahren. Dann können wir nur Liebe erfahren und verspüren, ebenso wie wir die Wärme der Sonne an einem wolkenlosen Sommernachmittag spüren müssen.
Dennoch steht außer Frage, daß es einfacher scheint, die Nächsten zu lieben, die Freunde sind, als diejenigen, die meinen, unsere Feinde zu sein. Was von uns verlangt wird, ist, daß wir andere nicht als Feinde betrachten. Die göttliche Eingebung, die uns zu der tieferen Überzeugung geführt hat, daß wir unserem geistigen Wesen nach die Widerspiegelung der unendlichen Liebe sind, bringt uns auch zum Bewußtsein, daß diese grundlegende Wahrheit nicht nur auf uns zutrifft. Wenn sie für einen gilt, muß sie für alle gelten — sowohl für die, die wir als Freunde ansehen, wie für diejenigen, die uns nicht freundlich gesinnt sind.
Das alles bedeutet nicht, daß wir das Heil eines anderen stellvertretend für ihn ausarbeiten könnten. Aber die Liebe Christi, die allen gegenüber so unparteiisch zum Ausdruck kommt, ist dafür bekannt, daß sie scheinbar unüberwindbare Abgründe überbrückt. Sie deckt Mißverständnisse auf und erneuert Vertrauen. Sie löscht Feindseligkeiten aus. Sie schreibt Friedensabkommen in die Herzen von Ehepartnern, in die Herzen von Eltern und Kindern, von Arbeitskollegen, Kirchenmitgliedern, politischen Führern, selbst in die Herzen von Menschen auf verschiedenen Seiten einer Grenze, deren Errichtung manchmal so lange zurückliegt, daß niemand mehr weiß, warum sie errichtet wurde. Rivalität, Uneinigkeit, Feindseligkeit, sie alle werden machtlos angesichts reinen, christlichen Mitgefühls.
Die alle umfassende Liebe des Christen ist letztendlich die mächtigste Heilkraft, die die Welt jemals gekannt hat oder jemals kennen wird. So verwundert es nicht, daß Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit schreibt: „Allumfassende Liebe ist der göttliche Weg in der Christlichen Wissenschaft.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 266. Sie ist der einzige Weg.