Wir Lesen Im Galaterbrief: „Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott“ (4:6, 7).
Die Worte Kind und Erbe haben eine besondere Bedeutung für mich, aber das war nicht immer so. Ich lernte die Christliche Wissenschaft als junges Mädchen nach dem Zweiten Weltkrieg in West-Berlin bei einer Tante kennen, die Ausüberin der Christlichen Wissenschaft war. Ich fand die Früchte dieser Religion wunderbar und begann sofort, regelmäßig die Lektion zu studieren.
Ich war aber noch weit entfernt, den tieferen Sinn der Christlichen Wissenschaft zu verstehen. Eines schockierte mich: Ich verstand die Aussage nicht, daß der Mensch vollkommen ist, wo es auf der ganzen Welt doch genug Beispiele für Unvollkommenheit gibt. Und ich konnte nicht begreifen, wie sich der Anspruch auf Vollkommenheit mit der Forderung in der Bibel verstand, demütig zu sein. Aber ich war jung, mir ging es gut, und so dachte ich nicht weiter darüber nach.
Es kam die Zeit, wo die Christliche Wissenschaft bei uns in der DDR verboten wurde. Ich begann die wunderbare Wahrheit, die ich gelernt hatte, zu vernachlässigen, zumal mein Mann an geistiges Heilen nicht glauben konnte.
Jahre vergingen, und eines Tages bekam ich eine Lungenentzündung. Meine Mutter brachte mir Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy und fragte, ob ich es nicht wieder lesen wolle. Da es mir sehr schlecht ging, nahm ich das Buch und las Seite für Seite. Eine tiefe Freude erfüllte mich. Es dauerte nicht lange, und ich war gesund. Der Arzt war ganz erstaunt über diese schnelle Heilung. Von dieser Zeit an lasen mein Mann und ich regelmäßig die Lektion, und auch die Kinder interessierten sich dafür. Der ganzen Familie ging es besser, und durch liebe Freunde aus dem Westen bekamen wir christlich-wissenschaftliche Zeitschriften.
Schon lange hatte ich den Wunsch, mehr über die christlich-wissenschaftliche Kirche zu erfahren, aber erst als ich Rentnerin war, konnte ich Westdeutschland besuchen und Gottesdienste erleben. Später konnte ich meinen sehnlichsten Wunsch, am Klassenunterricht in der Christlichen Wissenschaft teilzunehmen, wahrmachen. Erst hier ging mir der tiefere Sinn der Christlichen Wissenschaft auf, und dafür bin ich außerordentlich dankbar.
Noch immer war in meiner Heimat die Christliche Wissenschaft verboten, und so kam nach einer gewissen Zeit ein Gefühl der Verlassenheit auf. Wir wußten, daß unser Telefon abgehört wurde und Briefe und Päckchen geöffnet wurden, daher wagten wir nicht, die Christliche Wissenschaft brieflich oder telefonisch zu erwähnen. Mit meiner Arbeit im Haushalt, Garten, Beruf und für die Familie fühlte ich mich überfordert. Ich erkrankte an einem Rückenleiden, das sich mit der Zeit verschlimmerte. Da ich nach dem Westen nichts darüber schreiben wollte und da ich ja wußte, daß der tiefere Sinn des Klassenunterrichts ist, daß der Schüler die Regeln der Christlichen Wissenschaft selbst demonstriert, versuchte ich, ohne Ausüber durch mein eigenes Gebet und durch intensives Studieren der Bibel und des Buches Wissenschaft und Gesundheit meine Gesundheit wiederherzustellen. Aber im tiefsten Inneren hatte ich Zweifel: Ich traute mir selbst noch nicht die Fähigkeit zu, das auszuüben, was ich las. Ich verstand immer noch nicht völlig, daß nicht der Mensch heilt, sondern daß bei Gott alles schon vollkommen ist!
Dieser Zustand dauerte Monate an, und schließlich konnte ich mich nicht ohne große Schmerzen bewegen. Nur folgende Aussage hielt mich aufrecht: „Die Menschen sind konsequent, die wachen und beten, die ‚laufen‘ können ‚und nicht matt werden, ... wandeln‘ können ‚und nicht müde werden‘, die das Gute schnell erringen und ihre Stellung behaupten oder die es langsam erlangen und sich nicht entmutigen lassen“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 254). Ich wollte mich nicht entmutigen lassen.
Eines Tages fand ich die Stelle im Römerbrief: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi“ (8:14–17).
Ich dachte intensiv über die Stelle nach, und mir wurde klar, daß ich das Erbe Gottes für mich nicht in Anspruch genommen hatte. Wenn auch ich den Weg, den Christus Jesus uns gewiesen hat, zu gehen mich bemühte, und zwar ernstlich, würde ich mein vollkommenes Erbe erkennen.
Zugleich beantwortete sich die Frage, die ich in jungen Jahren über die Vollkommenheit und Demut hatte. Ich begriff, daß es kein Zeichen der Überheblichkeit ist, Anspruch auf die Vollkommenheit des Menschen zu erheben, wie ich damals gedacht hatte; statt dessen können wir Vollkommenheit nur durch wahre Demut und immerwährende Bereitschaft, zu Gott hinzustreben und das Gute zu erwarten, erreichen. Ich war befreit von Schmerz und Furcht, und das Rückenleiden war geheilt. Das liegt nun schon Jahre zurück, und es ist nie wieder aufgetaucht.
Ich bin sehr dankbar für alles, was uns die Christliche Wissenschaft gegeben hat, für die Anwendbarkeit in allen Lebenslagen und für die große geistige Arbeit Mary Baker Eddys.
All das Erlebte hilft mir, die Liebe Gottes widerzuspiegeln, mehr Sicherheit zu erlangen und das Erlernte weiterzugeben.
Merseburg, Deutschland