Wer Ist Dafür verantwortlich, daß die Menschen zu mitfühlenden, ehrlichen und mit moralischem Mut ausgerüsteten Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen werden? Seit jeher war das die Aufgabe der Eltern. Und während Wirtschaftsunternehmen und Bildungseinrichtungen neuerdings überdenken, welchen Beitrag sie zur Charakterbildung leisten können, sehen Kirchen und Synagogen dies schon lange als ein Hauptanliegen an.
Durch die Mitarbeit und Mitgliedschaft in einer Zweigkirche der Christlichen Wissenschaft bieten sich zahllose Gelegenheiten, Selbstlosigkeit, Demut, Aufrichtigkeit und Geduld zu üben. Diese und andere moralische Charaktereigenschaften gehen untrennbar mit geistigem Wachstum einher, das ein Hauptzweck der Kirche ist. Die Kirche verteidigt und fördert eine moralische Lebensweise — die aber weniger ein Mittel zur Vergeistigung unseres Denkens und Lebens ist als vielmehr die Folge davon. Die Kirche besteht nicht aus vollkommenen menschlichen Wesen. Vielmehr ruft und umfaßt sie alle diejenigen, die bereit sind, täglich nach dem Verständnis zu streben, daß das Leben geistig ist, nicht materiell, und die bereit sind, sich so zu verhalten, wie es den hohen moralischen Maßstäben wahrer Christlichkeit entspricht.
Doch das scheint oft mit großen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Ich erinnere mich daran, daß ich es als junges Kirchenmitglied manchmal viel leichter fand, einem völlig Fremden Anerkenung und Geduld entgegenzubringen als einem Kirchenmitglied, das in meinen Augen nur äußerlich fromm war! Und heute nach jahrzehntelanger Zweigkirchenarbeit muß ich sagen, daß die schlimmsten Meinungsverschiedenheiten meines Lebens, die härtesten persönlichen Konflikte und die größten Enttäuschungen (über andere wie über mich selbst) sich innerhalb der Zweigkirchengemeinden abgespielt haben. Aber ich bin auch immer dankbarer für den zusätzlichen Anstoß, den mir die Kirchenarbeit gegeben hat, um meinen Charakter zu stärken. So habe ich gelernt, mich durch diese Erfahrungen weder verbittern noch entmutigen zu lassen. Die folgende Aussage Mrs. Eddys beschreibt den Wert der Kirchenarbeit, wie ich ihn erfahren habe: „Ein wenig mehr Freundlichkeit, ein geläuterter Beweggrund, einige liebevoll mitgeteilte Wahrheiten, ein besänftigtes Herz, ein beherrschter Charakter, ein hingebungsvolles Leben würden die rechte Tätigkeit des inneren Triebwerks wiederherstellen und offenbaren, daß die Bewegung von Körper und Seele im Einklang mit Gott steht.“ Vermischte Schriften, S. 354.
Aber was ist der Charakter eigentlich? Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet etwa „Natur“. Die Christliche Wissenschaft versteht unter Charakterbildung das geistige Lernen über die wahre, unsterbliche Natur des Menschen und die Anleitung dazu, wie man diese Natur im täglichen Leben zum Ausdruck bringt. In gewissem Sinne ist alles in der Kirche Christi, Wissenschafter,Church of Christ, Scientist darauf ausgerichtet, den Charakter zu bilden — dem Denken die Wahrheit des geistigen Daseins bewußtzumachen. Dies ist der eigentliche Zweck eines jeden Gottesdienstes und der religiösen Zeitschriften, die unsere Kirche herausgibt. Doch darüber hinaus erhalten die Mitglieder auch Gelegenheit, das Gelesene und Gehörte in die Tat umzusetzen — vor allem natürlich im Alltag, aber auch in der Komiteearbeit, bei Mitgliederversammlungen und in den Gottesdiensten, wo sie ganz konkret lernen müssen zusammenzuarbeiten. Wenn sie die damit verbundenen Herausforderungen durch inspiriertes Gebet und gelebtes Christentum meistern, ist die unausbleibliche Folge ein gereifter Charakter.
In Wahrheit muß sich der Charakter des Menschen niemals ändern; er ist immer geistig, harmonisch und vollkommen. Was uns menschlich als Umwandlung oder Erneuerung des Charakters erscheint, ist eigentlich eine Veränderung unseres Menschenbildes, ein vergeistigter Begriff von uns selbst. Die Lehren der Christlichen Wissenschaft erheben das Bewußtsein und führen uns so dazu, moralische Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Vergeistigtes Denken wird daher zu einem wichtigen Ausgangspunkt für ein moralisches Leben. So will ein Christlicher Wissenschafter nicht nur deshalb moralisch leben, weil er versucht, eine Ordnung im menschlichen Alltag zu schaffen — ein geregeltes und angenehmes Leben zu haben. Er tut es vielmehr, weil es eine natürliche Folge davon ist, daß er die geistige Identität des Menschen versteht und demonstriert. Mrs. Eddy schreibt: „So zu leben, daß das menschliche Bewußtsein ständig in Verbindung mit dem Göttlichen, dem Geistigen und dem Ewigen bleibt, heißt die unendliche Macht individuell zum Ausdruck bringen, und das ist Christliche Wissenschaft.“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 160.
Was uns menschlich als Umwandlung oder Erneuerung des Charakters erscheint, ist eigentlich eine Veränderung unseres Menschenbildes, ein vergeistigter Begriff von uns selbst.
Die beste Gewähr für ein wahrhaft moralisches Leben sind nicht nur menschlich gute Taten, sondern das Bewußtsein, das die absolute Untrennbarkeit des Menschen von Gott, dem göttlichen Prinzip, erkennt. Der Meister Christus Jesus erklärte: „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht.“ Joh 5:19. Wahres moralisches Verhalten weist immer auf Gott hin. Kern der Unmoral hingegen ist die falsche Auffassung, daß das Leben von Gott und Seinen Forderungen unabhängig ist. Selbst Kirchenarbeit erweist sich als unzulänglich, wenn ihr diese Auffassung zugrunde liegt. Ihr fehlt dann die geistige Kraft, und sie führt uns nicht näher zu Gott, von dem allein Heilung und Erneuerung ausgehen. Mrs. Eddy schreibt: „Alles, was den menschlichen Gedanken auf gleicher Linie mit selbstloser Liebe erhält, empfängt unmittelbar die göttliche Kraft.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 192. Gute Taten, die die geistige Wirklichkeit sichtbar werden lassen, sind Zeichen der wahren Kirche. Sie sind Wege zur Erlösung der Menschheit, und sie machen den Menschen bewußt, daß ihr Ursprung und Sein mit Gott eins sind. Diese Erkenntnis gibt uns auch unter den schwierigsten menschlichen Umständen Mut und Hoffnung.
Das Bewußtsein des einzelnen ist oft ein Schlachtfeld, auf dem ein gewaltiger Kampf ausgefochten wird zwischen den Ansprüchen des Bösen oder des fleischlichen Gemüts, das sich manchmal als Vergnügen und Stolz tarnt, und den Forderungen Gottes, die diese Ansprüche verneinen. Eine Form der fleischlichen Gesinnung möchte uns einreden, moralische Eigenschaften seien nicht klar definierbar, Fragen der Moral seien nebelhaft und verwirrend und ein moralisches Leben sei langweilig und höchst unpraktisch. Die Kirchenmitglieder kennen solche Suggestionen meistens uns sind auf der Hut davor. Aber dabei kann es passieren, daß sie in eine falsche Selbstgefälligkeit hineinschlittern, die sich brüstet: „Fragen der Moral? Das haben wir alles schon ausgearbeitet!“ Welche Formen die Argumente auch annehmen, ihr Ziel ist immer das gleiche: Wir sollen von einer moralischen Lebensführung abgehalten werden, die zu Gott hinführt und unsere ehrlichen Bemühungen unterstützt, falsche Ansichten über Gott und uns selbst durch richtige zu ersetzen.
Mit der Unterstützung einer Gemeinschaft ist es sehr viel leichter, ein moralisches Leben zu führen — man findet Hilfe und Trost durch die Bemühungen, das Vorbild und die Ermutigung derer, die ihr Leben ähnlich ausgerichtet haben, die ehrlich bestrebt sind, Christus Jesus im täglichen Leben nachzufolgen, und die dieselbe Umwandlung von der Materie zum Geist hin durchmachen wie man selbst.
Die Kirche ist eine solche Gemeinschaft, und ihre charakterformende Funktion wird im Hebräerbrief so beschrieben: „Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen unsre Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, daß sich der Tag naht.“ Hebr 10:23–25.
Die Kirche ist da, wo wir zusammenkommen, um zu beten und um einander die Wunden zu verbinden, die wir im christlichen Kampf mit der Welt davongetragen haben. Die Kirche ist da, wo wir unsere Berichte von Hoffnung und Sieg miteinander teilen. Aber die Kirche ist auch dort, wo wir lernen, zusammenzuarbeiten und — sowohl unter Mitgliedern als auch gegenüber sogenannten Außenstehenden — täglich und stündlich geistige Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen, und zwar sowohl bei wichtigen Angelegenheiten als auch bei unbedeutenden wie beispielsweise, welche Farbe die neuen Vorhänge haben sollen! Auseinandersetzungen unter Kirchenmitgliedern, die zu Bitterkeit und Trennung führen, sind Anzeichen des fleischlichen Gemüts, das jede Moral umkehren und unterhöhlen möchte und Tugenden wie Zuneigung, Mitgefühl und Hoffnung erstickt. Alles Trennende entstammt demselben falschen, unpersönlichen Einfluß, der die Menschen auch in die Falle von Sucht, Wollust oder Kriminalität lockt. Weil seine Verführung aber (zumindest anfänglich) sehr raffiniert getarnt ist, bleibt sein wahres Wesen oft verborgen. Ehrlichkeit und Demut jedoch reißen ihm die Maske ab und zerstören ihn.
Manchmal hat es mir besonders großen Verdruß bereitet, wenn ein erfahrenes Mitglied etwas Enttäuschendes, Unkluges oder gar Unmoralisches tat. So eine schwerwiegende Verfehlung scheint oft unverzeihlich. In solchen Fällen mag man sich besorgt fragen: „Wenn jemand mit so viel Erfahrung in moralische Schwierigkeiten geraten kann, was kann dann mir alles passieren?“ Ein großer Trost liegt jedoch in der Tatsache, daß es nur einen Menschen gibt, den Menschen, den Gott erschaffen hat — und der ist geliebt, rein, geistig und vollkommen.
Jeder, sei er nun ein Anfänger in der Metaphysik, sei er schon fortgeschritten, ist dieser geistige Mensch und nichts anderes. Die Kirche umfaßt viele Einzelwesen, die alle durch das Erwachen zu ihrer geistigen Identität an der Charakterbildung teilhaben. Und wir können darauf vertrauen, daß Gott jeden einzelnen dahin führt, daß er das lernt, was er lernen muß, und zwar auf eine Weise, die ihn — und die Kirche — am meisten segnet.
Die Erfolge unserer „Mitstreiter“ in der Kirche sollten uns ermutigen; ihre Niederlagen aber brauchen uns nicht zu enttäuschen oder gar zu ängstigen. Vielmehr können auch wir davon lernen. Außerdem geben sie uns die Gelegenheit, Mitgefühl und Liebe zu üben, wie wir sie uns als Hilfe bei unseren eigenen Kämpfen auch wünschen. So helfen wir einander, Niederlagen in Siege zu verwandeln.
Es kommt in unserem Alltag gar nicht so sehr auf die „Tagesgeschäfte“ an. Es ist nicht unsere Hauptaufgabe, einen Vortrag zu organisieren, den Leseraum neu zu streichen oder die Kleinen in der Sonntagsschule zu unterrichten. Diese Tätigkeiten sind nur Mittel zur Durchführung der größeren Aufgaben christlicher Jüngerschaft: Heilung und Wiederherstellung durch eine korrekte geistige Identifikation des Menschen und die daraus folgende Erhebung des Denkens zum Verständnis der Allmacht und Allgegenwart des Guten. Das ist wahre Charakterbildung. Sie wandelt die Wahrnehmung und Erfahrung des einzelnen Kirchenmitgliedes um und trägt gleichzeitig dazu bei, das geistige und moralische Niveau unserer Zweigkirchen und der ganzen Menschheit zu heben.
