In Meinem Büro hängt ein wunderschönes Bild von einem Schwan. Jedesmal wenn ich es ansehe, muß ich an Hans Christian Andersens Märchen vom häßlichen Entlein denken. Dieses kümmerliche „Entlein“ war in Wirklichkeit ein Schwan — aber das wußte es nicht. Da es in einer Entenfamilie groß wurde, glaubte es ganz selbstverständlich, eine Ente zu sein. Es wurde von allen anderen Tieren auf dem Bauernhof verhöhnt und von seinen „Geschwistern“ gemieden. Ja sogar die Ente, die es für seine Mutter hielt, wollte nicht viel mit ihm zu tun haben — und so lief es davon. Das Märchen berichtet nun über die Abenteuer, die es in der Welt außerhalb des Bauernhofs erlebte — oder besser gesagt, über die Mißgeschicke, die ihm zustießen. „Es fühlte sich einsam und verlassen“, heißt es da. „Ob ich wohl jemals irgendwo dazugehören werde?“ Hans Christian Andersen, Das häßliche Entlein nach der englischen Version von Marianna Mayer, The Ugly Duckling (New York: The Macmillan Co., 1987). fragte es sich. Es hatte viel zu leiden infolge der falschen Vorstellung von sich selbst — aber das Heilmittel bestand natürlich nicht darin, immer mehr zur Ente zu werden. Es mußte erkennen, was es wirklich war.
Ich weiß nicht, ob Schwäne oder Enten sich normalerweise danach sehnen, irgendwo dazuzugehören. Aber Menschen tun das. Selbst wenn wir nicht so viel auszustehen haben wie unser gefiederter Freund, sind wir, wie er, doch manchmal von den bewundernswerten Eigenschaften eines anderen so beeindruckt oder sind so frustriert, weil wir einfach nicht den Erwartungen anderer gerecht werden können, daß wir uns minderwertig vorkommen.
Haben Sie sich auch schon einmal gewünscht, Sie wären so wie jemand anders? Oder gar, Sie wären jemand anders? Das geht wahrscheinlich allen Menschen von Zeit zu Zeit so. Dieses Gefühl kann sogar recht nützlich sein, wenn es uns dazu anregt, ein besserer Mensch zu werden. Aber weit häufiger führt ein solcher Wunsch zu Minderwertigkeitskomplexen und zu allem möglichen Kummer — auch zu Neid und Bitterkeit. Außerdem kann uns dieser Gedankenzustand blind machen für unsere gottgegebene Identität und Individualität.
Das Thema Individualität kann uns sehr komplex erscheinen, bis wir etwas über das wahre Wesen Gottes und des Menschen lernen. In der Bibel lesen wir, daß Gott Geist ist. Siehe Joh 4:24. Und wir erkennen, daß Er der einzige Schöpfer des Menschen und des Universums ist — die einzig wirkliche Ursache. Wir lesen, daß der Mensch zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffen wurde. Siehe 1. Mose 1:26, 27. Daher ist er völlig geistig, immerdar vollständig, die vollkommene Wirkung der einen vollkommenen Ursache. Auch lehrt uns die Bibel — wenn wir sie im Licht der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjen s’aiens) betrachten —, daß Gott Seele ist, die Quelle aller Identität und Individualität. Die Schneeflocken, die aus dem winterlichen Himmel fallen, weisen auf die unendliche Vielfalt wahrer Individualität hin. Jeder einzelne Mensch, jede geistige Idee ist verschieden. Jeder drückt Gottes Wesen auf seine eigene Weise aus.
Was bedeutet das nun für diejenigen von uns, die sich manchmal wie ein häßliches Entlein fühlen, schlechter als unsere Mitmenschen — wie ein Ausgestoßener, der nirgendwo „dazugehört“? Vor allem bedeutet es, daß wir aufhören müssen, unseren Wert nach begrenzten, materiellen Maßstäben zu beurteilen und uns mit anderen zu vergleichen. Statt dessen müssen wir Gott näherkommen und mehr über unsere wahre, geistige Identität als Sein Ausdruck lernen. Wenn wir erkennen und besser zu schätzen wissen, wer wir wirklich sind — Gottes schöne, intelligente, weise, von Grund auf gute und vollendete geistige Ideen —, dann können Konkurrenzdenken, Neid oder Minderwertigkeitsgefühle nicht mehr an uns nagen. Und wir begreifen, was die Grundlage wahren Wertes ist.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, sagt in ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für 1902: „Glück besteht darin, gut zu sein und Gutes zu tun; nur was Gott gibt und was wir uns selbst und anderen durch Seinen Reichtum geben, verleiht Glück; bewußter Wert befriedigt das hungernde Herz, und nichts anderes vermag es.“ Botschaft für 1902, S. 17. Bewußter Wert kann aber nur daraus erwachsen, daß wir wissen, wer wir wirklich sind, und unser wahres, gutes Wesen zum Ausdruck bringen. Wir müssen die falschen Vorstellungen, die wir von uns haben, zurückweisen und ablegen — nämlich daß wir fehlerhafte, kranke, arme, dumme oder häßliche Sterbliche seien. Es geht weniger darum, unsere menschliche Persönlichkeit oder unser Aussehen zu verändern, als darum, das ganze falsche, sterbliche Bild zu leugnen und die wahre, geistige Auffassung von uns zu akzeptieren. Die Menschen haben oft das gleiche Problem wie der Schwan, der meinte, er sei ein häßliches Entlein. Sie glauben, sie seien Sterbliche, wo doch jeder einzelne in Wirklichkeit jetzt und in alle Ewigkeit das vollkommene Kind Gottes ist.
Ich liebe die Stelle im Märchen, wo das häßliche Entlein entdeckt, daß es ein schöner Schwan ist. Hier wird uns sehr deutlich gesagt, was nötig ist, um mehr über unser wahres Wesen als Kind Gottes zu erkennen. Es heißt da: „Demütig schlug es seine Augen nieder. .. In diesem Moment erblickte es sein Spiegelbild im Wasser. .. Es sah einen wunderschönen Schwan.“
Durch Demut verstehen wir, daß der Mensch völlig von Gott abhängig ist. Christus Jesus erklärte: „Ich kann nichts von mir aus tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.“ Joh 5:30. Und er lebte sein ganzes Leben aus diesem Wissen heraus. Wenn wir Jesu Beispiel folgen, hören wir auf, uns von einem begrenzten, sterblichen Blickwinkel aus zu beurteilen. Wir hören auf, uns mit anderen zu vergleichen, und schauen statt dessen in Demut auf unseren Schöpfer, um verstehen zu lernen, wer wir sind. Wir freuen uns, wenn wir sehen, daß wir die gottähnlichen Eigenschaften auf unsere eigene individuelle Weise widerspiegeln und auch andere ihre Individualität als Kinder Gottes zum Ausdruck bringen. Dann wissen wir tatsächlich, was es bedeutet, dazuzugehören.
Ich weiß wohl, was ich für Gedanken
über euch habe, spricht der Herr:
Gedanken des Friedens und nicht des Leides,
daß ich euch gebe das Ende,
des ihr wartet.
Jeremia 29:11
