Als Junger Mensch plagte mich dauernd die Angst vor dem Versagen — und heute beobachte ich in meinem Beruf das gleiche bei anderen. Es ist vielleicht eines der häufigsten Probleme, vor die sich die Menschen gestellt sehen. „Versagen“ kann umschrieben werden mit „die Erwartungen nicht erfüllen“.
Wenn man — wie es oft geschieht — Erfolge daran mißt, ob die Erwartungen erfüllt worden sind, dann fragt man sich natürlich: Welche Erwartungen sind angemessen und realistisch? Die Psychologie, besonders die beliebte „Selbsthilfe-Variante“, geht bei der Beantwortung dieser Frage von der menschlichen Persönlichkeit, von Begabung und Erfahrung aus. Und da die menschliche Welt notwendigerweise begrenzt ist, wird erklärt, daß sogar die fähigsten Menschen manchmal nicht so viel leisten, wie sie eigentlich leisten könnten. Früher oder später stehen sie alle vor einer schwierigen Situation oder begegnen einem Rivalen, der ihnen überlegen ist.
Die Christliche Wissenschaft aber beantwortet die Frage vom Standpunkt des einen unendlichen Gottes und des zu Seinem Ebenbild geschaffenen Menschen. Über Gott schreibt Mrs. Eddy: „Keine Weisheit ist weise als Seine Weisheit; keine Wahrheit ist wahr, keine Liebe ist lieblich, kein Leben ist Leben als das göttliche; nichts Gutes gibt es außer dem Guten, das Gott verleiht.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 275. Also ist der Mensch als Gottes Ausdruck untrennbar von allem wirklich Guten, von der unerschöpflichen geistigen Quelle. Niemals kann er in den Schatten gestellt oder frustriert werden.
Welches ist die verläßlichere Grundlage für unsere Erwartungen? Diese Frage läuft letzten Endes auf folgendes hinaus: Was bringt Leben hervor, und was regiert das Leben?
Die Bibel läßt keinen Zweifel daran, daß Gott der Schöpfer und die Ursache aller Dinge ist. Und daher beginnt man am besten mit Ihm. Ein Prophet des Alten Testaments legt Gott die Worte in den Mund: „Wer tut und macht das? Wer ruft die Geschlechter von Anfang her? Ich bin’s, der Herr, der Erste, und bei den Letzten noch derselbe.“ Jes 41:4.
Warum können die Menschen ihre Möglichkeiten als Gotteskinder so oft nicht erkennen? Ein Grund mag sein, daß sie sich ihrer gottähnlichen Natur gar nicht bewußt sind, darum ihre Erwartungen viel zu niedrig ansetzen und sich mit zuwenig zufriedengeben. Oder aber sie wissen um ihr wahres Wesen als Gotteskind, beanspruchen es jedoch nicht beharrlich genug. Sie sind wie der Mann, der sich vom Kassierer in der Bank einreden läßt, daß er kein Geld von seinem Sparkonto abheben kann. Wenn er dann mit leeren Händen davongeht, ist er keineswegs ohne Geldmittel — ihm fehlt es nur an Mut und an Beharrlichkeit. Wenn er an den Bankschalter zurückgeht und beweist, daß ihm das Geld auf diesem Konto rechtmäßig gehört, dann wird er es auch erhalten.
Genauso ist es mit den geistigen Eigenschaften, die die wahre Identität des Menschen ausmachen. Einem Gotteskind kann niemals der Segen Gottes genommen werden, aber wir müssen uns vor den Einflüsterungen des fleischlichen Gemüts hüten, das uns einreden möchte, wir sollten lieber nichts beanspruchen. Weltliche Ablenkungen, Furcht und Minderwertigkeitsgefühle sind nichts als Suggestionen des fleischlichen Gemüts. Sie alle wollen die Menschen überreden, ihre geistig begründeten Erwartungen des Guten aufzugeben oder sie für Erwartungen einzutauschen, die auf einer materialistischen und verzerrten Auffassung vom Leben beruhen. Zuzugeben, daß menschliche Voraussetzungen oder Zustände unser Leben bestimmen, heißt, dem Versagen Tür und Tor zu öffnen. Aber uns als Gottes geistiges Ebenbild zu erkennen und zu wissen, daß Er das eine und einzige Gemüt ist, das den Menschen regiert, ist eine Erfolgsgarantie, ganz gleich, was für Rückschläge es geben mag.
Erfolg und Mißerfolg sind oft nicht das, was sie zu sein scheinen. Die Welt stellt uns den „Erfolg“ sehr plastisch dar in den Bildern der Boulevardpresse von Wohlstand, Ruhm und Macht. Aber Erwartungen, die sich auf materielle Vorstellungen gründen, werden über kurz oder lang unweigerlich zu Enttäuschungen. Sie können uns keine wahre Zufriedenheit geben. Es ist ja allseits bekannt, daß Reichtum und Berühmtheit oft eine große innere Leere mit sich bringen. Dinge an sich haben niemals die Macht, Glück oder auch nur Sicherheit zu geben. Dafür gibt es unendlich viele Beispiele.
Wir alle müssen schließlich — entweder nach schmerzlichen Enttäuschungen oder durch den einfachen Wunsch nach etwas Besserem, Verläßlicherem — die auf Materie gegründeten Erwartungen aufgeben und eine höhere, mehr der Wahrheit entsprechende Auffassung vom Leben finden. Solch eine Auffassung finden wir im Leben Christi Jesu veranschaulicht. Auf den ersten Blick scheint sein demütiges Dienen weit weniger attraktiv zu sein als das Leben eines populären „Idols“ unserer Zeit. Aber selbst die größten menschlichen Erfolge verblassen neben seinem triumphalen Sieg über Sünde, Krankheit und Tod. Kein anderer Mensch hat die Welt im Laufe der Geschichte nachhaltiger beeinflußt als er.
Dinge an sich haben niemals die Macht, Glück oder auch nur Sicherheit zu geben. Dafür gibt es unendlich viele Beispiele.
Wie konnte Jesus in so kurzer Zeit so viel vollbringen? Er konnte das, weil er immer wußte, wer er war. Inmitten von Versuchung und Demütigung bezweifelte er niemals seine gottgegebene Identität und Mission. Trotz schwerer und unwiderruflich scheinender Rückschläge blieb der Meister seiner Heiltätigkeit treu — bis zur Kreuzigung und Auferstehung und dann zur Himmelfahrt.
Wie verzweifelt mögen die Jünger am Abend der Kreuzigung gewesen sein! Alles schien verloren. Aber in eben dem Augenblick, als die Dinge am düstersten aussahen, war bereits alles gewonnen. Jesus selbst hatte ihnen gesagt: „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“ Joh 16:22.
Wenn die menschlichen Erwartungen sich nicht so erfüllen, wie wir es uns vorgestellt haben, werden wir manchmal von Entmutigung und Demütigung fast überwältigt. Unser Selbstwertgefühl kann einen schweren Schlag bekommen. Doch genau an diesem Punkt kommt uns der Christus, Gottes heilende und erlösende Botschaft, zu Hilfe. Christus hilft uns zu erkennen, wer wir wirklich sind, und wenn wir uns demütig und bereitwillig dem einen Gemüt öffnen, beginnen wir diesen göttlichen Einfluß zu fühlen.
Jesus sah in jedem, dem er begegnete, immer Gottes Ebenbild. Nie sah er einen gescheiterten Sterblichen. Und auf diese Weise heilte er. Mrs. Eddy erklärt: „Die göttliche Natur fand ihren höchsten Ausdruck in Christus Jesus, der den Sterblichen die wahrere Widerspiegelung Gottes leuchten ließ und ihr Leben höher hob, als ihre armseligen Gedankenvorbilder es gestatteten — Gedanken, die den Menschen als gefallen, krank, sündig und sterbend darstellten. Das christusgleiche Verständnis vom wissenschaftlichen Sein und vom göttlichen Heilen umfaßt als Grundlage des Gedankens und der Demonstration ein vollkommenes Prinzip und eine vollkommene Idee — einen vollkommenen Gott und einen vollkommenen Menschen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 259. Ein einziger Blick auf unser wahres Sein durch die Augen des Christus tröstet, erfrischt und gibt uns den Mut, es noch einmal zu versuchen. Er schenkt uns die Freude, die niemand uns nehmen kann.
Jesus sah in jedem, dem er begegnete, immer Gottes Ebenbild. Nie sah er einen gescheiterten Sterblichen. Und auf diese Weise heilte er.
Ich hatte ein Erlebnis, das mir dies bewies. Ich steckte damals gerade mitten in der Qualifikationsprüfung für die Promotion. Am letzten Examenstag fühlte ich mich beim Aufwachen ziemlich krank. Ich rief eine Ausüberin der Christlichen Wissenschaft an und bat sie, mir durch Gebet zu helfen. Wir sprachen darüber, daß das Bild eines kranken und angsterfüllten Sterblichen, das ich bot, ersetzt werden mußte durch das klare Erkennen meiner ununterbrochenen Einheit mit Gott, dem Guten, der Quelle aller wahren Intelligenz. Kurz bevor ich den Hörer auflegte, sagte sie: „Denken Sie daran: Gottes Mensch ist niemals ein Versager.“
Ich wußte, was sie meinte. Ihre Worte bezogen sich auf die Grundfrage, von der ich schon gesprochen habe, nämlich darauf, was in Wirklichkeit die Ursache des Lebens ist. Die Vorstellung, daß der Mensch ein selbstgeschaffener Sterblicher sei, kann zum Versagen führen. Aber wenn wir mit dem vollkommenen Gott beginnen und den Menschen als Seinen unsterblichen Ausdruck definieren, wird jedem Versagen die Basis entzogen. Die Ausüberin wollte, daß ich mich darauf besann, wer ich wirklich bin, und der Liebe Gottes vertraute, die mich regiert — wie auch immer der Augenschein sein mochte.
Bald fühlte ich mich wohl genug, an der Prüfung teilzunehmen, aber ich schaffte es nicht, alle Fragen in der vorgeschriebenen Zeit zu beantworten. Sehr enttäuscht verließ ich den Prüfungsraum. Die Ausüberin war überhaupt nicht beeindruckt von meinem Bericht über diese Katastrophe. „Gottes Mensch ist niemals ein Versager,“ erklärte sie. Und als ich zwei Wochen später die Mitteilung erhielt, daß ich die Prüfung nicht bestanden hatte, sagte sie einfach wieder dasselbe — überzeugter denn je.
Und erst jetzt war ich bereit, wirklich auf das zu hören, was sie sagte. Ich hatte ja auch keine andere Wahl. Mein Stolz auf meine akademischen Erfolge war einer tiefen Demütigung gewichen. Und so war ich mehr als bereit, mich von einer geistigen Warte aus zu sehen, alle menschlichen Erwartungen fahrenzulassen und Gott in Demut zu bitten, mir zu zeigen, wer ich bin und was Er mit mir vorhat. Das tat ich — und mehr und mehr gewann ich Sicherheit in dem Bewußtsein, daß ich mich immer in Gottes Gegenwart befinde, immer leistungsfähig und nie dem Auf und Ab menschlicher Umstände ausgesetzt bin. Schließlich fand ich wirklich echten Frieden.
Was nun passierte, war vom menschlichen Standpunkt aus gesehen sehr erstaunlich. Es kam schließlich dazu, daß ein Prüfungsausschuß der Fakultät meine Examensarbeit noch einmal benotete und den Teil akzeptierte, den ich geschafft hatte. Man setzte eine Zusatzprüfung an, bei der ich die fehlenden Fragen bearbeiten durfte. Außerdem wurde verfügt, daß das Nichtbestehen aus meinen Unterlagen getilgt wurde. Als ich der Ausüberin das erzählte, überraschte es mich nicht, daß ich sie wieder sagen hörte: „Sehen Sie? Gottes Mensch ist niemals ein Versager!“
Ich habe diese Erfahrung nie vergessen, und sie hat mir immer wieder Mut gemacht. Auf lange Sicht gesehen hat sich auch jeder andere offensichtliche Fehlschlag als Segen erwiesen, sobald ich bereit war, diesen Segen zu erwarten und zu beanspruchen.
Ich habe wieder und wieder erlebt, daß die Liebe und Macht Gottes nie versagen und daß der Mensch, Gottes Ausdruck, nie ein Versager ist.
