Diese Frage stelle uns der Pfarrer im Religionsunterricht, als ich zwölf Jahre alt war. (Ich besuchte damals eine christlich-wissenschaftliche Sonntagsschule, besuchte jedoch auch den Religionsunterricht einer der beiden Staatskirchen.) Ich kannte damals schon das Gleichnis vom barmherzigen Samariter Siehe Lk 10:30-42. von Jesus aus meiner Sonntagsschule und antwortete selbstverständlich: „Na, jeder." Er war damit nicht so ganz zufrieden und meinte, das wären wohl doch ein bisschen zu viele. Er hatte bei dem Begriff „Nächster" mehr die nähere Umgebung im Sinn.
Viel später, als ich die Geschichte des Samariters in der Bibel wieder einmal studierte, erkannte ich, dass Jesus die Frage, wer unser Nächster ist, eigentlich gar nicht beantwortet. Sie wird ihm von einem jüdischen Gelehrten gestellt und bezieht sich auf das mosaische Gebot, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst. Siehe 3. Mose 19:18. Jesus erwidert mit dem Gleichnis des barmherzigen Samariters. Ein Mann wird auf der Reise von Räubern überfallen, geschlagen und halbtot zurückgelassen. Ein Rabbiner und ein Pharisäer sehen den Mann, gehen aber weiter. Ein Samariter jedoch nimmt sich seiner an, verbindet seine Wunden, bringt ihn in eine Herberge und bezahlt sogar noch seine Pflege. Jesus schließt seine Geschichte mit der Frage ab: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?"
Suchen wir nach einem Nächsten? Oder ist es für uns einfach ein Bedürfnis, ein Nächster zu sein?
Jesus sagt also nicht: „Der Verwundete im Straßengraben ist dein Nächster", sondern: „Wer von den dreien hat wie ein Nächster gehandelt?" Das ist ein fundamentaler Unterschied. Suchen wir nach einem Nächsten oder nach Umständen, in denen unsere reitschaft nötig ist? Oder ist es für uns einfach ein Bedürfnis, ein Nächster zu sein und eine gedankliche Einstellung ausdrücken zu wollen, die ihre Befriedigung darin findet, Selbstlosigkeit zum Ausdruck zu bringen?
Jesus macht in seinem Gleichnis auch deutlich, wie wir diese Einstellung in die Tat umsetzen sollen. Er lässt den Samariter in die Wunden des Mannes Öl und Wein gießen. Da es sich um ein Gleichnis handelt, muss die Bedeutung dieser Handlung über das unmittelbare Reinigen der Wunden hinausgehen. Mary Baker Eddy gibt in ihrem Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, folgende Definitionen für diese beiden Begriffe: „ÖL. Hingabe; Nächstenliebe; Sanftheit; Gebet; himmlische Inspiration." Wissenschaft und Gesundheit, S. 592. „Wein. Inspiration; Verständnis." Ebd., S. 598.
Wie viele Gelegenheiten haben wir jeden Tag, in die Sorgen und Probleme täglich „Öl und Wein" zu gießen! Und wir können damit anfangen, uns selbst ein Nächster zu sein. Lieben wir uns! Wir alle können diese Form von Öl und Wein brauchen, ja mehr: Ohne sie leben wir eigentlich gar nicht richtig. Was wäre z. B. unser Leben ohne tägliche himmlische Inspiration? Öl und Wein lassen uns erst „uns selbst" sein, voller Freude, Frische, Energie. Diese Eigenschaften können wir nicht selbst produzieren. Aber trotzdem stehen sie uns ständig in unbeschränktem Maße zur Verfügung. Sie gehören ausnahmslos Gott an und wir als Gottes Kinder sind Sein ständiger Ausdruck, Seine Widerspiegelung, der Repräsentant der göttlichen Liebe.
Nun gibt es Einflüsse im täglichen Leben, die verhindern wollen, dass wir Öl und Wein anwenden. Wie schauen sie aus und wie können wir uns dagegen verteidigen? Gehen wir dazu noch einmal zu Jesu Gleichnis zurück. Oft werden sowohl der Pharisäer als auch der Rabbiner als gleichgültige oder egoistische Menschen angesehen, die nicht helfen wollten. Aber es ist interessant zu bedenken, dass sie vielleicht glaubten, sich in einem Konflikt mit den mosaischen Gesetzen zu befinden. Als religiöse und gebildete Juden glaubten sie möglicherweise, gar nicht helfen zu dürfen, da sie sich ja unrein machen würden, wenn sie einem halbtoten Menschen helfen würden. Siehe 4. Mose 19:16.
Wir sollten Gelegenheiten, die göttliche Liebe auszudrücken, nicht liegen lassen.
Auch heute glauben wir gelegentlich, göttlichen Forderungen nicht nachzukommen zu können. Sahen Sie schon einmal auf der Landstraße einen Autofahrer, der eine Panne hatte und für Hilfe dankbar gewesen wäre, und Sie dachten: „Ich habe keine Zeit", „Es regnet", „Ich kann sowieso nicht helfen"? Oder hat Ihnen jemand schon einmal von seinen privaten Problemen erzählt und Sie haben gedacht: „Soll ich ihm sagen, dass ich durch Gebet schon viel Hilfe erlebt habe? Ach, da werde ich ja nur ausgelacht." Dabei ist es doch in Wirklichkeit für alle Beteiligten (also auch für den Helfenden) eine Bereicherung und Beglückung, ausgedrückte, göttliche Liebe zu erleben — ja, eigentlich ist es das Befriedigendste überhaupt; und wir können wachsam sein, damit uns nichts die Früchte dieser Selbstlosigkeit raubt.
Wir brauchen uns wie der Samariter nicht beeinflussen zu lassen. Wir haben das göttliche Geschenk der Herrschaft über alles Gott Unähnliche erhalten. Wir sollten Gelegenheiten, die göttliche Liebe auszudrücken, nicht liegen lassen. Es sind kostbare Gelegenheiten, geistig zu wachsen. Mary Baker Eddy schreibt in dem bereits angesprochenen Lehrbuch: „Jeder Tag fordert von uns höhere Beweise, nicht nur Bekenntnisse der christlichen Kraft. Diese Beweise bestehen einzig in der Zerstörung von Sünde, Krankheit und Tod durch die Kraft des Geistes, und zwar in der Weise, wie Jesus sie zerstörte. Dies ist ein Element des Fortschritts, und Fortschritt ist das Gesetz Gottes, dessen Gesetz nur das von uns fordert, was wir gewißlich erfüllen können."Wissenschaft und Gesundheit, S. 233.
Wir stehen nicht unter einem materiellen Gesetz, sondern „unter der Gnade" Röm 16:14.. Und ein Zeuge für diese Gnade, für die Aktivität von „Öl und Wein", im täglichen Leben zu sein bedeutet, dass wir wirklich unsere wahre Natur zum Ausdruck bringen. Wir erkennen, dass unser Leben auf einer geistigen, vollkommenen und unzerstörbaren Grundlage steht und bringen damit Heilung und Befriedigung in unsere tägliche Erfahrung.