Warren Bolon, freier Mitarbeiter der Redaktion, hat — wie viele andere Menschen auch — Beweise für die Macht des Vaterunsers erlebt. Von einem solchen Fall und von der Notwendigkeit auf die Botschaft des Gebets zu lauschen berichtet er in dem folgenden Kommentar zu dem Buch The Lord's Prayer: Bridge to a Better World.
Manchmal werden wir beim Lesen eines Buches an unerwartete Orte getragen. Nachdem ich am Ende von C. G. Weeramantrys ernüchternder Betrachtung der Zustände in der Welt angekommen war, erinnerte ich mich an ein persönliches Gebets-Erlebnis in meinem Leben.
Es ereignete sich an einem Mittwochabend während einer Christian Science Zeugnisversammlung. Wie viele Male hatte ich schon das Vaterunser gebetet als eine große gemeinsame Stimme in der Kirchengemeinde oder allein für mich in einem Augenblick der Not. Doch diesmal war es anders. Und es war allein deshalb anders, weil ich lauschte.
Jahre zuvor, als ich noch zur Schule ging, war mein Vater ganz plötzlich verstorben. Ich war mir damals unter meinen Schulkameraden so komisch vorgekommen — unbeholfen, allein, vaterlos — und ich bemühte mich einfach nur, mich so normal wie möglich zu verhalten. Eine einzige Frage blieb zurück: Warum? Jetzt, Jahre später in dieser Zeugnisversammlung, sprach ich zusammen mit anderen das Gebet des Herrn, wie ich es so viele Male vorher getan hatte. Doch an diesem Abend hörte ich das Gebet so, als ob es nur aus vier Worten bestand: „Unser Vater ... in Ewigkeit." Ja, Gott sagte: Ich bin dein Vater und deine Mutter und der Vater-Mutter von deinem Papa und von jedermann, und so wird es immer sein.
Nie werde ich diesen Augenblick vergessen. Ich fühlte mich wie getauft. Es war Gottes Botschaft, direkt an mich, die ich gehört hatte. Gottes Botschaften bringen die Antworten auf die tiefsten Fragen. Wenn wir mit der Bereitschaft zu lauschen, selbst-vergessen und mit einem reinen Hunger nach Wahrheit, an das Vaterunser herangehen, sind wir bereit zu hören, was Gott über uns und das Universum weiß. Zu hören, was wir in dem Moment hören müssen. Zugleich werden wir aber auch wissen, dass diese Erkenntnis von Gott kommt, wenn ihre Wahrheit alle Menschen einschließt. Die umwandelnde Wirkung des Gebets gilt niemals nur uns, wenn wir Christus, die erlösende Idee Gottes, zu uns sprechen hören.
Wahrheit, die gehört wird, hat einen Nachhall; sie ist universal. Sie sorgt für unser jeweiliges Bedürfnis, doch sie trifft auf alle zu. Das Gebet stellt eine persönliche Beziehung des Einzelnen zu dem großen Einen dar und die Antwort ist individuell, doch die Botschaft der Wahrheit ist unparteiisch und grenzenlos — vom Einen für alle. Und hier besteht eine Verbindung zwischen meinem Einzelerlebnis und Richter Weeramantrys Aufruf zu einem kollektiven Erwachen. „Wenn man die vertikale Beziehung richtig pflegt", so bemerkt er, „Werden die horizontalen Beziehungen in die richtige Ordnung gebracht." C. G: Weeramantry, The Lord's Prayer: Bridge to a Better World (Liguori, Mo.: Liguori/Triumph, 1998).
In der Studie dieses am Weltgerichtshof tätigen Richters über das Vaterunser finden wir viel, was uns die vertrauten Worte neu hören lässt. Weeramantry bringt den Leser dazu die Ideen in jedem Satz zu durchdenken. Doch das Buch behandelt nicht Abstraktionen, die keinen Bezug zu den Übeln der Welt haben. Obwohl der Autor die Macht, die die Herzen und Regierungen umwandelt, nicht beim Namen nennt und nicht darüber nachdenkt, stellt er doch überzeugend und mitreißend dar, wie dieses Gebet, wenn es mit Verständnis gebetet wird, unsere Welt verbessern kann.
Die Sprache des Gebets ist in gewissem Sinne die einer Familie, die sich an ihren Vater wendet. Wir beten: „Unser Vater ... gib uns ... vergib uns ... wie auch wir vergeben ... führe uns ... erlöse uns ..." Es gibt da keinen Raum für Ausgrenzung. Weeramantry sagt, dass Verbundenheit im Sinne des Gebets nicht nur Verbundenheit im Gebet, sondern auch Verbundenheit beim Suchen nach unserem täglichen Brot, Verbundenheit in unseren Nöten und in unserem Reichtum bedeutet" Ebd., S. 31. Wenn man auch nicht mit der politischen Philosophie übereinstimmen mag, die hinter der Anschauung des Autors über die Probleme in der Welt steht, so kann man schwerlich etwas gegen sein Mitgefühl für die Menschheit sagen und ebenso wenig gegen seine Überzeugung, dass im Vaterunser göttliches Gesetz enthalten ist.
Einen geradezu kopernikanischen Perspektivwandel bietet in dieser Hinsicht Mary Baker Eddy in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift. Auf den Seiten, wo sie die geistige Bedeutung des Vaterunsers erklärt, schreibt sie:
„Dein Reich komme.
Dein Reich ist gekommen; Du bist immer-gegenwärtig." Ebd., S. 107.
Gottes Reich ist jetzt hier, ist universal, wenn auch für die materiellen Sinne nicht sichtbar. Mit dem geistigen Sinn zu beten heißt zu sehen, was wirklich existiert. Jede überwundene Versuchung, jedes Waisenkind, dem mütterliche Liebe entgegengebracht wird, jedes umgewandelte Leben bezeugt die Wirklichkeit dieses geistigen Reiches. Die Menschenfamilie, wir in unsere Gebete einschließen, spürt die Wärme des Christus, wir selbst uns durch die gleiche gottgesandte Botschaft in einem neuen Licht sehen.
