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Jemanden im Pflegeheim besuchen: „Gott, ich brauche Deine Hilfe dabei!”

Aus der Januar 2002-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Wenn ich Tante Engies Rollstuhl durch die Kircheneingangshalle oder ein Einkaufszentrum schiebe, machen manche Leute einen weiten Bogen um uns. Ich sehe sie einfach an und lächle. Ich verstehe sie. Vor einem Jahr hätte ich genauso reagiert. Bevor ich die Pflege von Tante Engie übernahm, fühlte ich mich bei Leuten im Rollstuhl unwohl, denn ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Aber Tante Engie hat mich verändert. Sie im Pflegeheim zu besuchen hat meine geistigen Muskeln trainiert und mich in vielerlei Hinsicht zu einem besseren Menschen gemacht.

Ich bin an der Ostküste der USA, in Virginia, geboren und aufgewachsen. Als ich sieben Jahre alt war, zwängte sich meine Familie in unseren 1957er Cadillac und machte eine 3000 Meilen weite Reise, um Tante Engie in Kalifornien zu besuchen, wo sie ihr ganzes Leben lang gelebt hat. Es war meine erste Begegnung mit ihr. Und es dauerte nicht lange, da saßen wir auf dem Boden, lachten und spielten Flohhüpfen. Ich liebte meine Tante Engie und ich wusste, dass sie mich liebte.

Jahrzehnte später, als einige Ärzte bei ihr Demenz diagnostizierten, kam unsere Familie zusammen. Wir mussten einige schwierige Entscheidungen treffen. Wir kamen zu dem gemeinsamen Entschluss, dass Engie in einer qualifizierten Pflegeeinrichtung besser aufgehoben wäre. Einige unserer Familienmitglieder sind Christliche Wissenschaftler, einige nicht, und wir alle lieben Engie sehr. Wir sprachen darüber, was ihr Wunsch wäre, wenn sie diese Entscheidung selbst treffen könnte. Während der letzten Jahrzehnte hatte sie sich auf medizinische Hilfe verlassen, und wir wollten ihre Wünsche diesbezüglich respektieren. Da viele ihrer Verwandten nun in der Gegend von St. Louis leben, beschlossen wir, sie hierher zu uns zu bringen.

Nachdem alles geregelt und Engie ins Pflegeheim gezogen war, begann ich sie drei- oder viermal in der Woche zu besuchen. Diese ersten Besuche waren für mich extrem unangenehm. Ältere Leute im Rollstuhl standen in einer Reihe in den langen Korridoren zwischen der Eingangshalle und dem entfernt liegenden Zimmer meiner Tante. In Null komma nichts lernte ich den „Pflegeheim-Trab" — das schnellste Schrittempo, das man erreichen kann, ohne ganz ins Rennen zu kommen. Um es richtig zu machen, muss man auf seine Füße oder knapp über die Köpfe der Patienten hinwegstarren und so tun, als ob man weder etwas sehen oder hören könnte.

Eines Morgens blieb ich an der Tür der Eingangshalle stehen, um mich für den „Trab" zu Engies Zimmer vorzubereiten. „Gott," betete ich, „ich brauche hier Deine Hilfe. Öffne mir die Augen und lass mich das sehen, was Du siehst, wenn Du in diese Gesichter blickst." Dann ging ich los.

Als ich durch die Halle ging, streckte eine der Frauen ihre Hand nach mir aus. Ein paar Schritte zur Seite und ich hätte ganz einfach ihrer Berührung aus dem Weg gehen können. Aber Gott sagte mir, ich solle stehenbleiben und ihre Hand nehmen. Ich schreckte bei dem Gedanken regelrecht zurück, gab ihr aber trotzdem die Hand. Als sie meine Hand drückte, merkte ich, dass ihre ganz weich und warm war. Dann sah ich ihr in die Augen. Sie waren blau und leuchtend. Jemand Liebes und Ruhiges und Sanftes sah mich an. Ihr Gesicht blühte zu einem friedevollen Lächeln auf. Dann ließ sie meine Hand los. Der ganze Vorgang dauerte weniger als zehn Sekunden. Aber er weckte mich auf. Als ich den Flur weiterging, nahm ich ein Taschentuch aus meiner Tasche und wischte mir die Augen trocken. Mir dämmerte, dass dieses Gebäude voller Söhne und Töchter Gottes war.

Ein paar Tage später saß ich mit Tante Engie im Speisesaal und wartete, dass das Mittagessen serviert würde. Die Pflegehelfer huschten umher und verteilten die Essentabletts. Einige Patienten hatten ihre Serviette noch nicht um. Ich hörte, wie Gott mir sagte: „Du bist hier um zu helfen. Also geh helfen!" Ich ging zu einem nahen Tisch hinüber. Zögernd nahm ich eine Serviette und band sie der Frau um, die in einem speziellen Rollstuhl mit Kopfund Fußstützen saß.

„Sie sind wirklich die freundlichste Frau, die es gibt, nicht wahr?" Wer hätte gedacht, dass das Halbieren eines Sandwichs solch hohe Ehre einbringen könnte?

Dann erinnerte ich mich an meine Erfahrung vorher mit der Frau im Flur. Ich hatte das Gefühl, dass diese Frau auch eine liebevolle Berührung bräuchte. Mit meinen Händen auf ihren Schultern lehnte ich meine Wange an ihre und schloss die Augen. Eine mächtige Woge von Mitgefühl und bedingungsloser Liebe wallte in mir auf. Ohne zu sprechen bekräftigte ich Gottes immense Liebe zu ihr, aber die Worte waren nur ein Bonus zu dieser tiefen geistigen Überzeugung. Ich ging zur Vorderseite des Rollstuhls herum, legte meine Hand sanft auf ihre und sah ihr in die Augen. Sie hatte Tränen in den Augen, aber dann erschien ein kleines Lächeln. Auch sie hatte Gottes Liebe gespürt.

Nicht jeder Besuch im Pflegeheim ist wie dieser — leider. Es gibt immer noch sehr schwere Tage. Tage, an denen ich meine neue Vision verliere und das Licht und die Großartigkeit dieser geistigen Wesen nicht sehen kann. Tage, an denen ich kaum die Tränen lange genug zurückhalten kann, bis ich endlich allein im Auto sitze. Aber wenn die Tränen aufhören, trockne ich mir die Augen, atme tief durch und bitte Gott um mehr Stärke und Licht. Diese zusätzliche Stärke kommt immer und das Licht kehrt zurück. Dann bin ich erfrischt und bereit, ein paar Schritte weiter auf dieser geistigen Reise zu gehen.

Manchmal bitte ich um Hilfe von Christian Science Praktikern. Ich nenne sie „Gebets-Krieger". Sie beten für mich und mit mir. Wenn für mich gebetet wird, stärkt mich das. Ich habe erfahren, dass ihr Gebet mich so erhebt und stärkt, dass ich den Leuten im Pflegeheim helfen kann. Es ist, als wenn man jemanden, der im Treibsand feststeckt, herauszieht. Wenn meine Füße auf sicherem Grund stehen, bin ich um einiges nützlicher.

Während der stillen Momente meines Tages denke ich über die Leute im Pflegeheim nach. Ich bitte Gott, auf sie Acht zu geben und sie zu beschützen. Ich bekräftige, dass ihr Leben in Gottes Universum Zweck und Bedeutung und unschätzbaren Wert hat. Ich denke über die Tatsache nach, dass Gottes Liebe unendlich ist und dass jeder in dem Heim genau im Mittelpunkt von Gottes Liebe ist.

Manchmal fühlen sich die Bewohner in einem Pflegeheim „familien-los". Wenn ich bete, erinnere ich mich selbst daran, dass Gott ihr Vater und ihre Mutter ist, und dass wir alle als Gottes Söhne und Töchter eng miteinander verbunden sind. Und ich bestehe darauf, dass diese Gebete Macht haben und dass ich praktische Resultate von diesen überwältigenden geistigen Wahrheiten erwarten kann. Ich weiß, dass bei Gott alle Dinge möglich sind.

Helen ist eine meiner besten Freundinnen im Pflegeheim geworden. Ich lernte sie kennen, als sie versuchte, ihren Rollstuhl den Flur entlang zu manövrieren. Ich bot ihr an, sie zu ihrem Zimmer zurückzuschieben, was sie gern annahm. „Es ist schwer, einen Rollstuhl mit nur einem Arm zu bewegen," sagte sie mit einem Lächeln. „Manchmal verbringe ich den Tag damit, mich im Kreis zu drehen." „Das Gefühl kenne ich," und wir mussten beide darüber kichern.

Als wir in Helens Zimmer waren, bemerkte ich, dass ihre Brillengläser ganz schmutzig waren. Also bot ich an sie zu putzen. Als sie wieder sauber waren, blickte sie sich im Zimmer um und sagte: „Schau mal die Welt an! Es sieht ja alles so sauber aus!" Helen erzählte mir, dass dies das erste Mal war, dass ihre Brille geputzt wurde, seit sie vor 14 Monaten ins Pflegeheim gekommen war.

Als ich sie ein, zwei Wochen später sah, war sie im Speisesaal und versuchte mit ihrer „guten" Hand ein Sandwich zu fassen. Ich fragte, ob ich es für sie halbieren sollte. Wieder brachte eine kleine Tat solche Freude. Seitdem stellt sie mich anderen im Pflegeheim immer so vor: „Ich möchte, dass du Rose kennenlernst — die freundlichste Frau, die es gibt."

Eines Abends saß ich mit Helen beim Abendessen. Sie erzählte allen Damen am Tisch von diesen kleinen Freundlichkeiten. Barbara, eine der anderen Frauen, sagte: „Sie sind wirklich die freundlichste Frau, die es gibt, nicht wahr?" Wer hätte gedacht, dass das Halbieren eines Sandwichs solch hohe Ehre einbringen könnte? Barbara fuhr fort: „Sie haben ein wunderschönes Lächeln. Danke, dass sie mich anlächeln."

Lily, eine andere Frau am Tisch, fing an, das erste Mal etwas zu reden und sagte: „Liebes, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und lassen Sie mich ihr wunderschönes Lächeln sehen. Ich brauche jemanden, der mich anlächelt." Ich setzte mich ganz nahe zu ihr. Und als ich ihr direkt in die Augen sah, dachte ich daran, wieviel diese Frauen dazu beigetragen hatten, dass ich meinen lebenslangen Kampf um eine neue Selbstachtung gewann. Als ich in Lilys Augen blickte, dachte ich: „Wer hätte gedacht, was für gute Dinge in einem Pflegeheim geschehen können?" Lily lächelte zurück.

„Liebe kann nicht gemessen werden, sie muss fließen. Wenn Sie jemanden mit Alzheimer in dieser Weise lieben, erlangt diese Person oft Klarheit und Bewusstsein."

Diese Erfahrungen haben mich gelehrt, wie ich meiner lieben Tante Engie eine wirkliche Freundin sein kann. Zu Beginn, als sie ins Pflegeheim kam, stellte ich ihr unbedacht dauernd irgendwelche Fragen wie etwa: „Engie, was hast du zu Mittag gegessen? Wie heiße ich? Welcher Tag ist heute? Schau dir das Bild an, Engie. Weißt du, wer das ist? Du erinnerst dich an sie, nicht wahr? Erinnerst du dich an den Brief, den ich dir gestern vorgelesen habe? Versuch's noch mal, Engie: Wie ist mein Name?"

Nun wurde mir klar, was für eine grausame Sache das für jemanden ist, der Erinnerungslücken hat. Ich habe ein Kapitel gelesen im Alzheimer-Handbuch für Pflegende: Ein praktischer Ratgeber, um durch den Tag zu kommen. Frena Gray Davidson: The Alzheimer's Sourcebook for Caregivers: A practical guide for getting through the day (Lowell House, Los Angeles 1993, S. 149) Darin sagt die Autorin: „Bedingungslose Liebe kann nicht gemessen werden, sie muss fließen. Man kann sie nicht geben oder bekommen, sondern nur Teil davon sein. Wenn Sie jemanden mit Alzheimer in dieser Weise lieben, erlangt diese Person oft klarheit und Bewusstsein." Sie sagt auch, dass wir lernen müssen, die Leute so zu lieben, wie sie sind und dass wir sie von unseren Erwartungen einer bestimmten sterblichen Identität befreien müssen.

Ich habe aufgehört, Tante Engie so viele Fragen zu stellen. Stattdessen habe ich gelernt bei ihr zu sitzen, ihre Hand zu halten und in ihre Augen zu sehen. Ich habe gelernt still zu sein und auf Gott zu lauschen, was Er mir über sie sagt. Gott sagt mir, dass Er meine Tante Engie innig liebt. Er liebt sie nicht nur, sondern Er ist auch immer bei ihr. Sie ist der reine Ausdruck von Gottes Intelligenz. Demenz ist kein Teil ihrer von Gott gegebenen Identität. Manchmal, während ich diese Gedanken denke, beginnt Tante Engie spontan zu reden. Dies sind bei weitem ihre besten Momente.

Dann sagt sie normalerweise: „Ich liebe dich so sehr." Oder: „Ich mag dich wirklich." Oder sogar: „Du bist so niedlich." Manchmal zieht sie mich nahe zu sich heran und gibt mir einen dicken Kuss. Oder bei anderen Gelegenheiten lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter. Sie reagiert immer auf eine andere Weise.

Eines Abends sang ich ihr Kirchenlieder vor. Sie war halb eingeschlafen und murmelte etwas, also fragte ich: „Soll ich aufhören?" Sie schaute mich an und sagte: „O nein, hör nicht auf. Ich liebe Kirchenlieder!" Das war ihr erster vollständiger Satz an diesem Tag.

Ich habe so viel von Tante Engie und den anderen Leuten im Pflegeheim gelernt, — sowohl vom Personal als auch von den Bewohnern. Ich habe gelernt, dass gesprochene Worte nicht die Gesamtsumme von Kommunikation sind. Sie sind lediglich eine wacklige Krücke, gut zum Aufstützen, aber nicht allzu verlässlich. Als „normale" Gespräche nicht mehr möglich waren, musste ich eine ganz neue Sprache lernen — die Sprache des Herzens. Die Sprache, die jede Mutter benutzt, wenn sie intuitiv um die Bedürfnisse ihres Kindes weiß. Es ist eine Sprache, die von Gott kommt und zu Gott zurückgeht.

Ich habe gelernt, dass still zu sitzen und Gott zu erlauben, sowohl zu Engie als auch zu mir zu sprechen, die höchste Form von Kommunikation ist, die ich als Mensch erreichen kann.

Tante Engie zu besuchen hat mich auch gelehrt, dass Liebe von Dauer ist. Auch wenn Erinnerungen verblassen, bleibt Liebe bestehen. Manchmal wird dann die Liebe sogar noch sichtbarer, weil sie nicht länger von alten Ängsten verdunkelt wird.

Wenn ich nun andere Besucher den „Pflegeheim-Trab" machen sehe, möchte ich sie am liebsten anhalten und ihnen sagen: „Sie rennen gerade an einem Segen vorbei! Kommen Sie, schauen Sie noch mal hin!"

Die Namen der Bewohner (mit Ausnahme von Engie) wurden von der Redaktion geändert, um ihre Privatsphäre zu respektieren.

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