Die meisten von uns lernen Geschichte und sehen das Leben anderer aus der Sicht von „Geschichtenerzählern" — von Historikern und Biografen. Sie geben die Fakten und das Geschehen, über die sie berichten, aus ihrer eigenen Perspektive wieder. Das ist für die Leser nichts Neues.
Der große holländische Historiker Peter Geyl sagte einmal zu Recht, dass Geschichtsschreibung „ein Wortstreit ohne Ende" ist. Die meisten Forscher teilen die Ansicht, dass seriöse Geschichtsschreibung, wenn überhaupt, nur wenige feststehende, umumstößliche und unveränderliche Wahrheiten liefert, die späteren Prüfungen und Untersuchungen standhalten. Selbst Historiker, die sich mit solch weltweit berühmten Gestalten wie Napoleon, Oliver Cromwell, George Washington und Abraham Lincoln befasst haben, debattieren weiter über deren persönliche Charakterzüge, Ideen und Leistungen — Kurz, über deren Größe —, ohne ihren Beitrag zur Geschichte in irgendeiner Weise in Abrede zu stellen.
Unsere Bibliotheken — und zunehmend auch die Dokumentarsendungen im Fernsehen — sind voll von solchen historischen Interpretationen zu allen möglichen geschichtlichen Themen, wie etwa dem Aufbau unserer politischen Systeme, den Ursachen verschiedener Konflikte (von Bürgerkriegen bis zu Revolutionskriegen, den zwei Weltkriegen und dem Kalten krieg) und unzähligen anderen Themen. Alle diese Interpretationen verbindet die Erkenntnis, dass Historiker, ebenso wie andere Menschen, dem Zeitgeist verhaftet sind. Die besten unter ihnen streben die größtmögliche Objektivität in ihren Forschungsmethoden und Schlussfolgerungen an, ungeachtet der Beschränkungen ihrer persönlichen subjektiven Welt. Fairness und das Streben mehr zu erfahren bleiben das höchste Ziel des Historikers.
Das wiederum bringt mich zum Thema der Mary Baker Eddy Bibliothek für den Fortschritt der Menschheit und zu dem bemerkenswerten Leben dieser Frau, nach der die Bibliothek benannt ist. Als Historiker, der beruflich viel Zeit damit zugebracht hat, Geschichtsbücher für Schulen und Colleges zu schreiben, kann ich bestätigen, dass Mary Baker Eddys Leben nicht genügend Beachtung geschenkt worden ist und dass manche Biografen sich wenig um Wirklichkeitstreue und Ausgewogenheit gekümmert und alte Geschichtsfälschungen wiederholt haben. Lehrbuchautoren, darunter auch ich, haben in ihren Werken M. B. Eddy vielfach überhaupt nicht erwähnt.
Wie ist es dazu gekommen? Mary Baker Eddy wurde von einer Zeitschrift im frühen 20. Jahrhundert als „die berühmteste, interessanteste und mächtigste Frau in Amerika" bezeichnet. Warum ist sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Öffentlichkeit fast unbekannt, wenn man von den Mitgliedern ihrer Kirche und einigen wenigen Akademikern absieht? Es sei daran erinnert, dass dies eine Frau war, die einem Schüler aus ihrem engeren Kreis einmal vielsagend erklärte, wie dringlich es sei, dass die Öffentlichkeit sich mit ihrem Leben und Gedankengut auseinandersetzt: „Wenn die Welt mich im wahren Licht und mein wahres Leben sieht, würde das mehr für unsere Sache tun als alles andere" (Brief an ihren Schüler Edward A. Kimball vom 15. Oktober 1893).
Das Wie and Warum von diesem geschichtlichen Paradox, dass Eddys Leben und Vermächtnis entweder keine Beachtung geschenkt oder allzu oft verfälscht wird, ist vielleicht weniger wichtig als das (im letzten Juni bekannt gegebene) großzügige Vorhaben des Christian Science Vorstands, die Mary Baker Eddy Bibliothek für den Fortschritt der Menschheit in diesem Jahr zu eröffnen.
Das Kernstück dieser Institution besteht aus Tausenden von bisher unveröffentlichten Schriften Mary Baker Eddys, die ihre Lebensgeschichte in ihren eigenen Worten wiedergeben. Diese Sammlung wird durch Ausstellungen und Veranstaltungen ergänzt und ihr stehen Bibliothekare für Forschungsarbeiten zur Verfügung; sie alle werden Studenten und Akademikern dabei helfen, Eddys Lebensgeschichte kontextuell zu sehen, d. h. „im wahren Licht und [ihr] wahres Leben."
Die Bibliothek bietet Akademikern (unter ihnen Biografen und Historikern), Kirchenmitgliedern und vielen anderen, die ein berechtigtes Interesse an den Schriften haben, die Möglichkeit, das umfangreiche originale Quellenmaterial in Augenschein zu nehmen — Eddys Briefwechsel und Tagebücher, die einem aufschlussreichen Einblick in ihr Leben, ihr Denken und ihr Vermächtnis gewähren. Nur ein geringer Teil dieses Materials ist Wissenschaftlern und Kirchenmitgliedern bisher zugänglich gewesen, so dass die Bibliothek bei ihrer Eröffnung praktisch über Nacht zu einer Fundgrube wird, die wie nichts anderes Fragen in Bezug auf die außergewöhnlich vielseitigen Aspekte von Eddys Lebens und ihren Leistungen beantworten kann.
Als Historiker und Treuhänder der Bibliothek habe ich Gelegenheit gehabt, einen, Teil, doch keineswegs die ganze umfangreiche Sammlung zu lesen. Die Schriften zeichnen zum Beispiel den Werdegang von Eddys Hauptwerk, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, durch die verschiedenen Auflagen nach und enthalten auch Korrespondenz über theologische Begriffe und Einflüsse.
Wer daran interessiert ist, wie sich die Institutionen der von ihr gegründeten Bewegung entwickelt haben, wird in der Bibliothek eine reichhaltige Dokumentation über diesen Aspekt von Eddys Laufbahn vorfinden. Ihre Freundschaften, Dispute und ihr schriftlicher Gedankenaustausch auf privater Ebene sind in der Sammlung ebenfalls breit erfasst. Einige weniger bekannte Aspekte ihres Lebens — zum Beispiel ihr lebhaftes Interesse an vielen politischen Persönlichkeiten und an nationalen wie internationalen Themen im Laufe ihres langen, produktiven Lebens — zeigen vielleicht eine Seite von ihr, die selbst Leute mit viel Kenntnis über sie überraschen werden.
Bei der Durchsicht dieses Materials ist mir auch klar geworden, dass Mary Baker Eddy, wie andere bedeutende Gestalten der Geschichte und in vielleicht noch größerem Maße als ihre damaligen Anhänger, damit gerechnet hat, von Historikern und Geschichtswissenschaftlern mit Interesse unter die Lupe genommen zu werden. Welche Vorkehrungen sie deshalb traf, geht aus einer Anzahl von persönlichen Notizen hervor, die sie ihren Mitarbeitern diktierte. Diese Notizen wurden auch deshalb aufgezeichnet, weil die Sensationspresse ständig falsche Nachrichten über Eddy verbreitete. Daher schrieb sie 1910, in ihrem letzten Lebensjahr: „Ich erkläre hiermit kurz, dass in meinem Leben nichts vorgekommen ist, was, wenn richtig dargestellt und verstanden, mir schaden könnte..." (Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 298).
Nach der Eröffnung der Bibliothek wird sich die Geschichtsforschung über die nächsten Jahre mit den vielfältigen Aspekten von Eddys neun Jahrzehnte langem Leben befassen: ihr Leben als Pionierin, Heilerin, Autorin, Theologin, Predigerin, Lehrerin, Verlegerin, Gründerin, Geschäftsfrau und — mit ihrem erstaunlichen Entschluss gegen Ende ihres Lebens, den Christian Science Monitor zu gründen — als Journalistin. Sie sah selbst am besten die Fülle an geschichtlichem Material und ihrem Vermächtnis, was sie den Historikern, Biografen, ihren Nachfolgern und allen hinterließ, die sich für die vielen Aspekte in ihrer Lebensgeschichte interessieren. „O das Wunder meines Lebens. Was würden die Menschen davon denken, wenn sie nur den millionstel Teil davon kennten?" (Brief an ihre Schülerin Augusta E. Stetson vom 28. April 1891).
Die Geschichte ihres wunderbaren Lebens kann nun mit ihren eigenen Worten durch die Fülle der Schriften erzählt werden, in denen diese so produktive Frau ihre Gedanken und Ziele festhielt. Bei vielen anderen bedeutenden Kirchenführern ist das nicht der Fall. Obwohl die Aufgabe, die jetzt vollendet wird, fast ein ganzes Jahrhundert in Anspruch genommen hat, wird sich in den kommenden Jahrzehnten die vollständige Geschichte von Mary Baker Eddys Leben — „ihre" Geschichte — in allen seinen Dimensionen, durch das Material entfalten, das sich in der Bibliothek befindet, die nicht nur nach der Frau benannt ist, sondern auch nach dem Ziel ihrer Mission: dem „Fortschritt der Menschheit".
