Wir haben sieben Kinder und zu Weihnachten kommen wir alle zusammen. Am Nachmittag des Heiligen Abends fuhren wir alle gemeinsam mit dem Auto in die Natur. Wir hatten auch die Schlitten eingepackt.
Nach einem Spaziergang fuhren wir noch auf eine Anhöhe und ich dachte: „Ach, wir können den Jüngeren noch gerecht werden und die Schlitten rausholen.” Aber mein Mann sagte: „Nein, mach das nicht. Wir fahren lieber nach Hause.” Aber ich sagte: „Nein, das mach ich jetzt!” Ich war so ein bisschen überdreht. Und dann fuhr ich als Erste runter.
Da gab es eine Schwelle, über die man ein Stück durch die Luft flog. Das konnte man von oben nicht sehen. Es ging aber gut, es war ganz lustig, obwohl es schon ein bisschen gefährlich war. Ich rief von unten: „Fahrt alle runter!” Sie fuhren nach und nach los und waren alle begeistert. Die letzte Tochter sagte mir später, sie hatte vor dem Losfahren sehr klar die Intuition: „Mach das nicht.” Aber sie machte es, weil wir alle unten standen. Sie hat aus der Situation gelernt, und wird ihre innere Stimme nicht mehr überhören.
Sie fuhr dann. Sie stürzte und sie stand nicht mehr auf. Mir schoss der Gedanke durch den Kopf: Querschnittlähmung. Doch dann dachte ich: „Bei Gott gibt es keine Unfälle. Sie ist nie aus den Armen Gottes gefallen. Ihr Sein ist eins mit diesem göttlichen Sein.”
Dann rief ich natürlich innerlich voller Not: „Steh auf! Bitte steh auf!” Aber sie stand nicht auf. Wir liefen zu ihr und hoben sie auf den Schlitten. Sie konnte nicht aufstehen oder laufen.
Sie war die ganze Zeit bei Bewusstsein und sagte: „Au weia, warum ist das jetzt passiert? Ich kann nicht laufen.” Wir alle waren sehr betroffen und ich fragte sie, ob wir sie ins Krankenhaus fahren sollten. Sie sagte, sie wollte nicht. Sie hatte zwei Jahre zuvor einen Skiunfall gehabt und man war ein bisschen ruppig mit ihr umgegangen. Sie wollte sich ganz auf Gott verlassen. Sie ist ja erwachsen, sie kann für sich selbst entscheiden.
Zu Hause angekommen — so um 16 Uhr — legten wir sie aufs Sofa ins Wohnzimmer. Wir waren alle sehr traurig. Ich muss noch dazu sagen, dass ich meinem Mann innerlich sehr gedankt habe. Er hat nicht einmal etwas Negativer gesagt. Er hatte mich ja zurückhalten wollen. Ich hatte nicht auf ihn gehört. Es war sehr, sehr gut für mich, dass er mir keine Schuld gab. Ich machte mir selbst schon genug Vorwürfe: „Du als Mutter, wie kannst du so einen Blödsinn anzetteln.”
Wir singen sehr gerne aus dem Christian Science Liederbuch. Jeder suchte ein Lied aus und wir lasen sehr bewusst die Texte, sangen sie dann gemeinsam und die Tochter auf dem Sofa sang mit soweit sie konnte.
Ich weiß, mein Mann hat gebetet. Die anderen Kinder haben gebetet. Die Schwestern waren sehr, sehr liebevoll zu ihr. Eine Tochter erzählte mir später, sie hatte am Morgen Streit mit ihr gehabt. Und als sie sie so liegen sah, musste sie alles, was da an bösen Worten gefallen war, vergeben und vergessen.
Nach so zwei Stunden sagte sie dann: „Ach Mami, mach jetzt das Abendessen. Ich möchte keinem hier den Heiligen Abend verderben. Ich möchte, dass er wie immer stattfindet.” Das war sehr selbstlos von ihr. Ich bereitete das Abendessen. Ich hatte Schuldgefühle, aber auch den Gedanken: „Gott berichtigt das, was menschliche Eltern falsch machen.” Und wir aßen zusammen.
Sie hatte auch Schmerzen. Und da dachte ich: „Na ja, wenn sie Schmerzen hat, dann kann's ja nicht ganz so schlimm sein.” Aber daraus kam auch der Gedanke: „Nun bring sie endlich ins Krankenhaus, vielleicht kann man ja doch noch was machen.” Das hat in mir gekämpft.
Jeder hat sich dann nochmal eine halbe Stunde zurückgezogen und intensiv gebetet. Dann saßen wir beieinander und lasen die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel und einige Gedanken von M. B. Eddy aus Wissenschaft und Gesundheit, wir sangen Lieder, wir musizierten, wie immer. Und wir packten Geschenke aus.
Aber meine Gedanken waren ganz woanders. Ich freute mich zwar über die Liebe, die sie sich gegenseitig gaben, aber dennoch hatte ich immer zu ringen mit dem Gedanken: „Bring sie ins Krankenhaus.”
Und dann kam für mich dieser erleuchtende Moment. „Wenn sie aus den Armen Gottes nie herausfallen kann, dann kann dieser Gedanke: ‚Bring sie ins Krankenhaus’ nicht von Gott kommen.” Ich war ja Schuld, ich hatte das Schlittenfahren angezettelt. Und wenn ich sie ins Krankenhaus brächte, dann hätte ja der Arzt die Verantwortung. Und da erkannte ich: „Ich kann Gott die Verantwortung geben. Er hat Sein Kind immer in den Armen. Und ich kann gar nicht so viel verkehrt gemacht haben, dass Er sie nicht beschützt.”
Da war ich innerlich wie erlöst. Ich war nicht Schuld an dem Ganzen! Gott ist größer in der Situation. Ich vergaß alles um mich herum.
In diesem Moment stand sie auf und sagte: „Ich geh zur Toilette”, und sie ging fünf, sechs Meter durchs Zimmer. Dann drehte sie sich um und sagte: „Ich kann ja laufen!” Und die kleine Schwester sagte: „Ja Mensch, du kannst ja laufen!” Und wir jubelten alle. Sie hatte wohl noch Schmerzen, aber das war so ein wunderschöner Heiliger Abend, weil sie wieder laufen konnte. Das war dann etwa 23 Uhr. Und wir saßen noch beieinander und dann ging jeder schlafen und am nächsten Tag konnte sie die Aktvitäten der Familie so weit mitmachen.
Eine Woche später fuhr sie mit dem Rucksack auf dem Rücken nach Venedig. Sie hatte sich dort mit jungen Leuten verabredet, um Silvester zu feiern. Und sie hatte viel Freude dort.
In Sommer betreute sie im Rahmen ihres Pädagogik-Studiums ein internationales Kindercamp. Diese Betreuer müssen sich ärztlich untersuchen lassen. Es wurde nach Unfällen gefragt und sie sagte: „Ja, ich hatte letzten Winter einen Rodelunfall.” Daraufhin ordnete der Arzt eine Kernspintomographie an. Der Röntgenologe schaute sich die Bilder an und sagte zu ihr: „Ja, ihr Rücken war mal gebrochen.” Und er hat es ihr gezeigt, zwischen welchen Wirbeln. Diese Röntgenbilder haben wir behalte. Der Arzt hat noch gesagt: „Normalerweise kommen Leute mit solchen Bildern nur im Rollstuhl zu mir. Die können nicht mehr laufen.” Der Arzt sagte, sie hätten in keinem Gipsbett hingekriegt, dass es so gut zusammengewachsen ist. Das würde man irgendwann überhaupt nicht mehr sehen. Und als sie die ganze Tragweite erkannte, rief sie mich an und sagte: „Ich bin so dankbar. Ich fühle mich wie neu geboren.”
Rosenheim