Die gute Nachricht zuerst: Die Kraft positiver Gedanken kann Schmerzen so stark lindern wie eine Dosis Morphin. Die schlechte Nachricht: Stellt man sich auf heftige Schmerzen ein – etwa vor dem Zahnarztbesuch – empfindet man sie stärker, als wenn sie den Körper unvorbereitet heimsuchen. Wissenschaftler der Universität Winston-Salem in North Carolina beschreiben in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences, wie subjektiv körperliche Pein erlebt wird. Ihr Fazit: Die Intensität der unangenehmen Empfindungen wird entscheidend davon beeinflusst, welches Ausmaß an Schmerzen zuvor erwartet wurde.
Die amerikanischen Neurobiologen haben eine ausgeklügelte Versuchsanordnung für ihren Schmerz-Artikel gewählt: Freiwilligen Probanden fügten sie unangenehme aber ungefährliche Hitzereize zu. Im immer gleichen zeitlichen Abstand erhöhten die Forscher die Schmerzreize von »gering«, über »mäßig« bis »stark«. Nachdem diese Steigerung zwei Tage lang trainiert worden war, variierten sie die Tortur: Nun bekamen die Teilnehmer einen starken Schmerzreiz zu dem Zeitpunkt versetzt, zu dem sie nur mit einem mäßigen gerechnet hatten. So unerwartet mit starker Hitze malträtiert, verringerte sich die Schmerzwahrnehmung um 28 Prozent im Vergleich zu den Versuchen, in denen starke Schmerzen erwartet und auch verabreicht wurden. Um etwa 30 Prozent werden Schmerzen auch durch Opiate gemildert – die stärkste Gruppe der medikamentösen Schmerzkiller.
»Wir erleben Schmerz nicht im luftleeren Ramu«, sagt der Neurowissenschaftler Robert Coghill, der die Untersuchung geleitet hat. »Schmerz ist nicht nur das Ergebnis von Signalen aus einer malträtierten Körperregion, sondern er entwickelt sich aus dem gedanklichen Umfeld eines Menschen, das bei jedem einzigartig ist.« In der Studie zeigte sich, dass die Erwartung starker Schmerzen mit einer gesteigerten Nervenaktivierung in verschiedenen Hirnregionen einherging. Die Wege der Schmerzempfindung waren gleichsam gebahnt, bevor der entsprechende Reiz überhaupt da war.
Wenn nicht nur Fakire und Yogi, sondern auch durchschnittliche Schmerzensmänner und -frauen in der Lage sind, ihre Wahrnehmung positiv zu beeinflussen, könnte sich das auf den Alltag Kranker segensreich auswirken. »Schmerzen müssen mit mehr als nur mit Pillen behandelt werden«, fordert Neurobiologe Coghill. »Unser Gehirn kann den Schmerz formen – diese Fähigkeit müssen wir ausnützen.«
Schmerztherapeuten wissen etwa schon länger, dass Antidepressiva nicht nur die Laune heben, sondern auch Schmerzen dämpfen. Weil die Hirnregionen für Schmerz und Wohlbefinden eng miteinander verknüpft sind, trägt bessere Stimmung dazu bei, körperliche Torturen weniger stark zu empfinden. »Für chronisch Kranke ist es wichtig, die Schmerzerwartung zu unterbrechen«, sagt Carl Scheidt, Professor für Psychosomatik an der Universität Freiburg. »Kommt man nicht aus diesem Teufelskreis heraus, gilt leider: Chronischer Schmerz sagt weiteren chronischen Schmerz voraus.« Dann bewahrheitet sich, dass jenseits der persönlichen Schmerzgrenze manchmal selbst die schlimmsten Erwartungen Wirklichkeit werden.
Nachdruck
mit freundlicher Genehmigung
vom 8. September 2005,
Süddeutsche Zeitung GmbH,
München
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