Der gelegentlich laut werdende Ruf eines Rothkehlchens, das uns vom kommenden Frühling spricht, ruft mir stets ein schönes Erlebnis in die Erinnerung. Der sterbliche Sinn der Dinge wollte mich einst glauben machen, daß in meinem Leben nicht alles ging, wie es sollte. Mir schien, ich hatte das Menschenmögliche gethan und mein höchstes Verständnis des Rechten zur Anwendung gebracht — und dennoch gestalteten sich die Dinge unbefriedigend. Irrtum ließ sich durch jeden nur möglichen Zugang und besonders durch diejenigen hören, für die ich am meisten gethan hatte. Woher kam das? Ich konnte nicht verstehen, weshalb Scientists nicht mehr Liebe und Harmonie reflektierten und ausdrückten. Ein Gedanke quälte mich, den unzweifelhaft jeder Christian Scientist einmal in seiner Laufbahn zu überwinden hat; ich sagte mir: »Als ich in Christian Science kam, glaubte ich, daß ich immer in Glück und Frieden leben würde: aber so viel, wie ich jetzt leiden muß, hätte ich in meinem früheren Leben nie leiden können. Das verstehe ich nicht.« Anstatt meine Last Christus, der Wahrheit, zu Füßen zu legen und dort Ruhe und Frieden zu finden, ging ich damit wie mit einem Busenfreunde zur Ruhe.
Kein Wunder also, daß mein Schlaf kein friedlicher, sondern häufig unterbrochen war! Schließlich versank ich in Selbstvergessen und schlief kurze Zeit ruhig.
Da hörte ich — gleichsam wie im Traume — das charakteristische Zwitschern eines Rothkehlchens. (Das hübsche Wortspiel zwischen dem Laut »Chirrup,« dem Zwitschern des Rothkehlchens, und: »Cheer up,« »Sei munter, sei lustig.« geht im Deutschen leider verloren.) Ich dachte, »ach ich träume ja nur, es ist noch nicht Morgen,« und versuchte wieder einzuschlafen. Doch das Zwitschern mit seiner lieblichen Ermahnung, »Sei munter, sei lustig« schlug bald wieder an mein waches Ohr. »Es kann unmöglich schon Tag sein,« dachte ich, öffnete jedoch diesmal die Augen. Mein Zimmer war sehr finster, hatte ich denn die Jalousien alle heruntergelassen, und wurde es wirklich draußen schon hell? Ich richtete mich auf dem Ellbogen in die Höhe und tastete nach der Jalousie. Nein, sie war wie gewöhnlich nicht heruntergelassen. Also konnte das Sonnenlicht hereindringen.
Das Rothkehlchen sang immer noch. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster; doch alles war finster, ganz finster, — kein Zeichen von Tageseinbruch zu entdecken. Das Rothkehlchen sang aber immer lauter und noch ernstlicher als zuvor. Ich legte mich wieder nieder und lauschte und dachte nach — und dachte nach und lauschte. Das Rothkehlchen sang weiter. Erst nach einer halben Stunde etwa konnte ich in der Entfernung ein schwaches zweites Zwitschern vernehmen, das meinem ersten tapferen Vögelchen antwortete. Eine ganze Zeit lang riefen sich die beiden ihr: »Munter, lustig« zu. Dann erst stimmte ein drittes mit ein; es war ein liebliches Trio!
Nun konnte ich einen Schimmer des Morgenlichts wahrnehmen, und während ich noch lauschte, gesellte sich ein viertes Stimmchen dazu und dann ein fünftes und so fort, bis ich sie nicht mehr zählen konnte. Denn mit dem anbrechenden Licht stimmten so viele neue Stimmen in den Chorgesang mit ein, daß ich mich selbst in der andächtigen Freude über die wundervolle Einheit und Harmonie und den Lobgesang, — ja den überströmenden Jubel dieser tapferen melodischen Sänger vergaß.
Kein Chor menschlicher Stimmen hätte den Hallelujah-Chor Händels wirkungsvoller — wenigstens für mich — wiedergeben können, als diese einfachen heimatlichen Vögelchen in der Morgendämmerung des anbrechenden Tages. Und niemals erklang Lob und Dank des Schöpfers alles Guten deutlicher und war der Erhörung sicherer. Es sprach so klar der Geist der Zufriedenheit, der Sicherheit daraus, und erinnerte mich an das kleine Abendlied, das wir im Kindergarten zu singen pflegten:
Was singt Rothkehlchen, mein Kindelein
Drunten in dem Gärtlein sein?
Es wiegt sich und singt noch vor Nacht,
die so lang,
Kannst du vernehmen sein' Abend-
gesang?
Es singt, ihr lieben Kind'lein gut,
Schlaft furchtlos in Gottes treuer Hut;
Denn wo und wie ich auch sitz' und
sing',
Ich weiß, er bewacht und behüt'
all' Ding.
Schließlich flutete das Licht voll und klar in mein Zimmer herein und verkündete den Anbruch eines neuen frohen Tages. Der kleine Chor zerstreute sich. Ich konnte das Flattern des Gefieders und das fröhliche Zirpen und Rufen hören, als eines nach dem anderen von den hohen Zweigen, wo sie sich zur Nacht niedergelassen hatten, herabkam und nun an die tägliche Arbeit des Nestbauens ging.
Und was bedeutete all das für mich? Konnte ich, — Gottes Kind, — das, wie die Bibel sagt, in Seinem Bilde erschaffen wurde, trostlos und entmutigt sein? Konnte ich ungetreu und ungläubig sein, wenn die kleinen Vögel seiner Obhut und seines Schutzes so sicher waren? Wenn das Rothkehlchen, das ich zuerst hörte, des nahenden Tages so sicher war, daß es das Loblied seines Schöpfers noch in der Dunkelheit und ganz allein anstimmte und durch seinen Mut und sein Vertrauen alle seine Gefährten erweckte und anspornte, in sein frohes Danklied mit einzustimmen, durfte ich alsdann weniger vertrauensvoll und mutig sein? Konnte ich nicht auch in der scheinbaren Finsternis singen! Und wenn ich mich auch in mancher Hinsicht allein fühlte, — hierdurch, dem Rothkehlchen gleich, andere zu den »himmlischen Thoren« geleiten?
Ferner machte ich die Beobachtung, daß die Stimme des ersten Sängers meinem Ohr in jenem anwachsenden melodischen Chor verloren ging. Doch was kümmerte das ihn, wenn nur die ganze Welt wach wurde und sang!
Die Lektion war wundervoll, demütigend und erfreulich zugleich. Und ich faßte den Beschluss, nie wieder der Entmutigung nachzugeben und mich solcher ägyptischen Finsternis als Sklave zu beugen.
Seitdem sind öfters Wolken über mich gekommen, doch nie mehr mit solcher Schwere, und ich denke dann stets an diese Erfahrung, fasse Mut und singe. Niemals kommt mir einer dieser rotbrustigen trillernden Sänger vor Augen, niemals dringt ihr Lied an mein Ohr, ohne daß ich an diese süße Prophezeiung des nahenden Tages denke und Gott für die Lektion danke, die sie mich gelehrt hat.