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Ehrlichkeit in der Musik

Aus der März 2006-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Herold: Erleben Sie in Ihrer Arbeit Beispiele, wo Ehrlichkeit eine besondere Rolle gespielt hat?

Juliane Klein: Ja, das gibt es gerade in der jüngsten Vergangenheit. Ich habe ein Werk geschrieben, als Auftrag, bin zu dem Ensemble gefahren und wir haben geprobt. Ich hatte einen ganz guten Eindruck, habe aber auch festgestellt, dass es gewisse Vorbehalte des Dirigenten und der Musiker mir und dem Stück gegenüber gab. Ich blieb die ganze Zeit über ruhig, ausgeglichen, freundlich, und der italienische Dirigent, ein wahrer Maestro seines Faches, durfte mir auch auf die Schulter klopfen als der Ältere und Weisere.

Ich bin dann nach Hause gefahren und erfahre hinten herum, dass das Stück zwar uraufgeführt werden soll, aber aus der Konzerttournee gestrichen ist, weil die Musiker davon nicht so begeistert sind und der Manager sich dazu entschlossen hat. Daraufhin habe ich zurückgeschrieben, dass ich das durchaus verstehe und für normal erachte. Ich freue mich, dass er so entscheidungsfreudig sei und klar mache, was er denkt. So wünsche ich dem Ensemble eine gute Uraufführung und äußerte die Überzeugung, dass diese hervorragenden Leute das auch ausgezeichnet machen werden.

Daraufhin kam die Antwort: Vielen Dank, dass ich die Entscheidung so ruhig aufgenommen habe. Man werde sich sehr bemühen, die Uraufführung sehr gut zu spielen.

Ich war nicht anwesend, aber schon eine Stunde nach dem Konzert erhielt ich mehrere SMS, die besagten: »Lang anhaltender Applaus«, »Dirigent musste sich zweimal vorbeugen«. »Stück sehr gut, schöne Musik«. In der Woche darauf konnte ich schreiben, wie erfreulich ich es finde, dass die Uraufführung stattgefunden hat und dass ich mich für das Engagement des Ensembles bedanke. Mir wurde geantwortet: Ihre Loyalität und Großzügigkeit hat uns sehr geholfen, denn es war nicht ganz einfach, diese Uraufführung in guter Qualität zu spielen.

Herold: Ehrlichkeit ist immer zweiseitig: einer, von dem sie ausgeht, und einer, dem gegenüber sie geäussert wird. Welche Rolle spielen Erwartungen im Zusammenhang mit der Ehrlichkeit, also die Erwartungen, die andere Ihnen gegenüber haben?

Klein: Es gibt die unterschiedlichsten Erwartungshaltungen und in meinem Beruf leider häufig negative Erwartungen oder von Angst und Misstrauen oder Unsicherheit gekennzeichnete Erwartungen. Erwartungen, die einem entgegengebbracht werden, wenn man etwas komponiert und noch nicht das vermeintlich genügende Lebensalter vorweisen kann, um eine gestandene Komponistin zu sein. Da spielt Ehrlichkeit eine ganz große Rolle. Denn ich sage, ich bin aus meiner Sicht ehrlich gut. Nicht nur, weil ich so tue oder ich nur bemüht bin, sondern weil ich es wirklich gut gemacht habe. Guten Gewissens habe ich alles getan, was ich tun konnte. Sollte sich darin ein Fehler zeigen, dann würde ich das verbessern. Diese Offenheit und Ehrlichkeit kann negative Erwartungen wirklich auflösen.

Ein Beispiel mit den Berliner Philharmonikern. Sie sollten eine Uraufführung von mir spielen und es hatte sich schon abgezeichnet, dass sie dieses Stück überhaupt nicht probten. Denn sie haben eine Probe nach der anderen abgesagt oder mitgeteilt, ich solle gar nicht erst zum vereinbarten Termin erscheinen. Es sei nicht notwendig. Schließlich hieß es, sie hätten das Stück vom Programm abgesetzt und würden die Uraufführung streichen, weil die Sängerin krank geworden ist. Da habe ich mich gefragt, ob das ehrlich sein kann. Ich habe ihnen geantwortet, dass sie als die Berliner Philharmoniker doch in der Lage sein werden, innerhalb einer Stunde in Berlin eine Sopranistin zu finden. Ich wäre dann bereit, die Partitur dieser Dame zur Verfügung zu stellen und ginge davon aus, dass das Konzert stattfindet. Daraufhin ist der Dirigent wieder zu den Musikern zurückgegangen und hat ihnen gesagt, es ist irgendwie anderes gelaufen als wir dachten. Wir können das gar nicht absagen. Die Komponistin ist der Meinung, wir würden einen Ersatz finden. Sie haben eine Sopranistin gefunden und sie würde sich jetzt die Noten angucken.

Als ich zur Probe kam, stellte sich heraus, dass die Musiker mir gegenüber stark negativ eingestellt waren. Die Begrüßung war eher unfreundlich, es herrschte eisiges Schweigen. Und als sie zu spielen anfingen, hatte ich ein Problem, die Noten dazu zu lesen, was mich sehr verunsicherte. Dann hat der Dirigent abgebrochen, triumphierend, dass das alles nicht so geht, wie er sich das gedacht hat. Nun musste ich etwas sagen. Und da habe ich dem Ersten Geiger gesagt, dass ich es nicht in Ordnung finde, wenn er ein A in der 3—gestrichenen Oktave spielt, obwohl es in der 4-gestrichenen Oktave geschrieben ist. Was ein Gelächter aller Kollegen hervorrief. Es war Teil der Ehrlichkeit hier zu sagen: Was Sie hier machen, ist falsch. Anschließend haben alle sehr gut gespielt und sich bei mir nach der Uraufführung entschuldigt. Sie hätten mein Stück nicht so eingeschätzt und hätten eigentlich erst im Konzert gemerkt, wie schön das Stück ist und wie gut es sich spielt.

Herold: Das zeigt doch, dass der Satz »Ehrlichkeit ist geistige Kraft« zutrifft. Sie gibt Ihnen die Kraft, in solchen Situationen durchzuhalten, und zu formulieren, was aus Ihrer Sicht nötig ist?

Klein: Ich habe erkannt, dass Ehrlichkeit mit Intelligenz zu tun hat. Sie bedeutet nicht, den anderen nur zu kritisieren und dessen Fehler aufzuzeigen, sondern ich gebe ihm die Chance, sich zu wandeln und etwas zu verbessern. 

Herold: Wenn Sie mit der Komposition eines neuen Stücks beginnen und vor einem weissen Notenblatt sitzen und womöglich denken, mir fällt im Moment nichts ein, ist diese Einschätzung auch Teil der Ehrlichkeit? Könnte diese Ehrlichkeit Sie herabziehen?

Klein: Wenn ich Komponistin bin und sage, mir fällt nichts ein, dann habe ich den Beruf verfehlt. Wenn jemand ein 100m-Läufer ist und sagt, ich kann nicht rennen, das geht doch nicht. Aber die andere Seite ist die Frage, ob das, was mir einfällt, wirklich tragfähig ist. Ist das gut, was aufs Papier kommt? Oder ist es nur eine Vorform, ein Beginn? Ich habe Aufträge angenommen für Zeiträume, in denen es eigentlich unmöglich ist, diese Arbeit zu schaffen. Aber es muss doch möglich sein, durch Inspiration das, was man empfängt, auch wirklich aufzuschreiben. Und so habe ich zum Beispiel eine kleine Oper, eine Tischoper, in 21 Tagen von Punkt Null bis zur Premiere gebracht. Das heißt, ich hatte nur zehn Tage Zeit alles zu notieren. Klar war: Ich darf nur das aufschreiben, was absolut richtig ist. Und was dann auch Bestand hat. Diese Hingabe und Konzentration ist auch eine Form der Ehrlichkeit.

Herold: Verhindert Ehrlichkeit manchmal Erfolg? Oder kann sie eine Garantie für Erfolg sein?

Klein: Längerfristig ist Ehrlichkeit die Garantie für Erfolg. Aber man muss sich klar sein, was man unter Erfolg versteht. Ich meine damit nicht, wie man heute sagt, auf einem »Hype« zu sein. Das ist für mich kein Erfolg. Es sieht zwar ganz genau so aus, ist auch mit Applaus verbunden, auch mit Geld verdienen, auch mit Anerkennung. Aber man muss authentisch sein und so offen sein, dass es im künstlerischen Schaffen keine Ecke gibt, wo eigentlich kein Licht hineinleuchten darf. Wo man nur erfolgreich wäre, weil man die dunklen Ecken noch dunkler macht, das ist nicht gut. Und dann verändert man ein Stück immer nur ein wenig, gerade so viel, dass man es wieder neu verkaufen kann. Zur Ehrlichkeit gehört für mich auch, veränderungsbereit zu bleiben. Dann wird sich eine Zufriedenheit einstellen und auf dieser Basis lassen sich kollegiale Netze knüpfen. Aber eben nicht unter dem Motto: eine Hand wäscht die andere, sondern auf der Basis von Ehrlichkeit. Dann heißt es: Wenn man dich fragt, bekommt man immer eine klare Antwort und Meinung, eine klare Auskunft, und man bekommt etwas Produktives von dir.

Herold: Woran messen Sie den Erfolg?

Klein: Ich würde mich selbst nicht für erfolgreich halten. Ich bin einfach nur tätig. Erfolg stelle ich fest, wenn man mir sagt, es hat viel Applaus gegeben. Das ist ein Indiz. Ich muss mit mir selbst ausmachen, wie weit bin ich in dieser Komposition gegangen? Ist dies das Nonplusultra gewesen? Wo liegen meine Potenziale? Wie kann es weitergehen? Sonst würde ich mir ja nur auf die Schultern klopfen und sagen: »das hast du gut gemacht« und dann schreibst du das Stück gleich noch einmal, ein bisschen verändert, ein bisschen hübscher, und dann hast du gleich wieder Erfolg.

Herold: Ist es Teil der Ehrlichkeit, sich zu seinem Ursprung zu bekennen oder im Gegenteil, zu sagen, ich trenne mich ganz bewusst von meinem Ursprung?

Klein: Ich finde, das 20. Jahrhundert hat uns in der Kunst ganz schön in die Enge getrieben. Uns wurde regelrecht eine psychologisierende Nabelbeschau aufoktroyiert. Probleme zur Schau stellen, Probleme, die immer größer werden und Raum greifen, Probleme mit Eltern, im Beruf. Und das wird dann Gegenstand von Kunst und löst Schrecken aus und Skandal und wird dadurch interessant. Kaum jemand mehr, der dann sagt, ihr könnt auch in die andere Richtung blicken. Dort ist dann kein Schrecken. Deshalb spielen für mich in der Komposition die eigenen Lebensumstände keine Rolle. Ich muss ganz frei sein von den privaten Dingen.

Herold: Gibt Ehrlichkeit Rückgrat?

Klein: In der Kunst gibt es oft das Motiv, bewundert werden zu wollen. Da wird dann schnell auf Äußerlichkeiten geachtet, man muss schick angezogen sein, man muss sich toll darstellen können. Womit ich auf die Bühne gehe ist mein wahres Wesen, mein Rückgrat — und das ist ganz und gar gerade. Sich dessen bewusst zu sein macht einen auch größer. Wenn man einmal etwas ausgesprochen hat, sogar als Forderung an andere, das merken sich die Leute. Manche erkennen es an, aber man bekommt es in vielen Situationen wieder aufs Butterbrot geschmiert. Durchaus manchmal mit Häme. Und es heißt: Du sprichst von Standhaftigkeit — und was machst du jetzt? Und dann sage ich: Das ist für mich die Gelegenheit, genau jetzt gerade und aufrecht und ehrlich zu bleiben. Danke für die Erinnerung. So nutze ich auch die Worte meines Gegenübers, um mich an meine Werte zu erinnern.

Herold: Sie erkennen im anderen das Gute, sogar in schwierigen Situationen?

Klein: Besonders in Situationen, in denen ich angegriffen werde. Bei Opernproduktionen geschieht es oft, dass die Emotionen hochschlagen. Das kann man sich manchmal gar nicht vorstellen, was da geäußert wird. Von allen Seiten wird man gestoßen, getreten und man erlebt Wutausbrüche oder Heulanfälle untereinander. Das ist oft unglaublich. Und wenn man dann gerade einen wütenden Menschen vor sich hat, der einen angreift und beschimpft, dann kann ich sagen: «ich verstehe dich, du willst wahrscheinlich mit mir reden. Dann sollten wir das auch tun.« Ich erkenne: da will mir jemand die Hand geben. Der hat sie zwar zur Faust geballt, weil ihm nichts Besseres eingefallen ist, aber die Hand ist doch da. Meine Haltung: Den anderen genau so sehen, wie ich mich selbst sehe. Ich sehe mich als jemand, der ausgestattet ist mit Fähigkeiten. Und der andere ist ebenso ausgestattet. Auch wenn er von ihnen im Moment keinen Gebrauch macht. Für mich heißt Ehrlichkeit auch, anderen Fähigkeiten zuzutrauen. Und zu erwarten, dass sie zum Ausdruck kommen.

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