Seit einigen Monaten wird in der Presse, in Rundfunk und Fernsehen und generell in der Öffentlichkeit die neue Regelung für die Einbürgerung von Ausländern kontrovers diskutiert. Für das angestrebte neue Prozedere gsibt es Vorschläge, die vom Gesprächsleitfaden für die Ausländerbehörde bis zu mehrseitigen Einbürgerungs-Tests reichen. Auch werden Bewerbungsgespräche nach amerikanischem Vorbild erwogen. Die unterschiedliche Praxis in den einzelnen Bundesländern kommt zur Sprache und die Frage drängt sich in den Vordergrund: Was heißt es eigentlich, Deutscher zu sein?
Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren zu einem Fußball-Länderspiel in das Berliner Olympiastadion eingeladen worden war. Vor dem Spiel wurden die Nationalhymnen gespielt und der kräftige Mann neben mir sagte nach der Hymne: »Wenn ich unsere Nationalhymne höre, bin ich immer so gerührt, dass mir die Tränen kommen. Geht Ihnen das auch so?« Meine Antwort war kurz: »Nein, überhaupt nicht.« Daraufhin er: »Nun, dann verbindet uns beide wirklich nicht viel.« Meine Antwort: »Ich denke schon – allein schon unsere Ehrlichkeit zu diesem Thema.« Nach dem Spiel, das die deutsche Mannschaft nach kläglicher Leistung deutlich verloren hatte, pfiff er sie gnadenlos aus. Hätte ich pfeifen können, hätte ich gern mitgepfiffen. Also, noch eine Gemeinsamkeit zwischen uns.
Aber im Ernst: die gegenwärtige Debatte zielt ja darauf ab, sich auf Gemeinsamkeiten zu verständigen, die einem Land bzw. seiner Bevölkerung einem Halt geben können. Allerdings, so ist festzustellen, wird gegenwärtig sehr viel über Fakten, aber wenig über Ideen gesprochen. Wohl mancher Franzose oder Italiener wird, wie in einem Test gefragt, auch drei deutsche Komponisten oder Schriftsteller oder Maler benennen können, ohne sich damit als Deutscher »outen« zu wollen. Auch die Frage danach, ob Bayern ein Bundesland, ein Kanton oder ein Bundesstaat ist, hat mehr mit Faktenwissen zu tun als mit einer die Menschen verbindenden Identität.
In einer Christian Science Sonntagsschulstunde sprach ich einmal mit meinen damals 13-jährigen Schülern über den Satz »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« (1. Mose 1:1) Ein Schüler fragte mich: »Und wann schuf Er Deutschland?« Im ersten Moment musste ich über die originelle Frage herzlich lachen. Aber dann entwickelte sich daraus ein sehr interessantes Gespräch. Schnell kamen wir auf eine Erklärung von Mary Baker Eddy in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift zu diesem Bibelzitat. Da heißt es: »Es gibt nur einen Schöpfer und nur eine Schöpfung. Diese Schöpfung besteht in der Entfaltung geistiger Ideen und deren Identitäten, die vom unendlichen Gemüt umfasst und für immer widergespiegelt werden. Diese Ideen reichen vom unendlich Kleinen bis zur Unendlichkeit und die höchsten Ideen sind die Söhne und Töchter Gottes.« (502:31)
In dieser Beschreibung ist keine Rede von Ländern oder Grenzen. Wir erkannten schnell, dass Grenzen, politische wie regionalen Grenzen, nichts mit der Widerspiegelung Gottes zu tun haben. Grenzen haben oftmals etwas Künstliches an sich. Sie sind oft Jahrhunderte zuvor gezogen worden und mögen auf Grund früherer Kriege mehr oder weniger zufällig sein. Noch heute geben sie bisweilen Anlass zu Streit und Unruhe. Wie viel wertvoller ist es, sich daran zu erinnern, dass es durch die Allmacht Gottes nur eine Schöpfung gibt. Diese geistige Tatsache verbindet die Menschen. Sie kann Trennungen überwinden und die Menschen stärken.
Kürzlich bedankte ich mich bei der Kassiererin in dem Supermarkt, in dem ich öfter einkaufe, weil sie immer freundlich und hilfsbereit ist und die Kunden anlächelt. Etwas erschreckt sah sie mich an, bedankte sich und fügte hinzu: »Aber Sie wissen doch, dass ich Polin bon?« Nein, sagte ich, das wusste ich nicht, ich freue mich halt an ihrer liebevollen Art, wie sie mit den Kunden umgeht. Allein das zählt. Ihrer Erfahrung nach würde das ein Deutscher nicht sagen, wenn er erfährt, dass sie aus Polen stammt.
Meine Frage: Kann man die Freundlichkeit in Deutschland fördern, indem man sie als Forderung in ein Gesetz steckt? Sicherlich nicht. Aber ich stärke die Freundlichkeit, indem ich sie überall dankbar anerkenne. Freundlichkeit, Ehrlichkeit, Demut, Hilfsbereitschaft, Lebensfreude, all diese Eigenschaften kommen von Gott und sie können in Deutschland wie in Frankreich oder Italien oder wo auch sonst immer ausgedrückt werden. Es sind, so könnte man sagen, grenzenlose Eigenschaften des geistigen Menschen. Ich fühle mich jedem Menschen herzlich verbunden, der diese und viele andere göttliche Eigenschaften zeigt. Denn dieser Mensch wird nicht Grenzen oder Trennendes in den Vordergrund stellen, sondern das gemeinsame Gut, das Gottes Liebe jedem verleiht. – Im Kapitel »Genesis« in Wissenschaft und Gesundheit stellt Mary Baker Eddy tiefgreifende Fragen über Gott und das Leben. Sie führt dazu aus: »Gott kann nicht endlich werden und auf materielle Grenzen beschränkt sein.« (S. 550)
Auf vielen Reisen hat mir dieser Gedanke geholfen und ich habe überall auf der Welt einen freundlichen Willkommensgruß erhalten. Alle Menschen bilden eine große, harmonische Familie. Selbst wenn die Sprachkenntnisse nicht ausreichen, um umfassend zu kommunizieren, entwickelt sich eine Vertrautheit und gegenseitige Achtung, die bereichert. Die materiellen Grenzen, staatliche Grenzen also, aber auch sprachliche Barrieren, treten schnell in den Hintergrund und die gemeinsame Freude an etwas Schönem beherrscht das Gespräch.
Diese Identität, Gottes Söhne und Töchter zu sein, schafft Vertrauen und Frieden. Und die Bereitschaft, diese Werte im anderen anzuerkennen, erweitert den Blick. Naturgemäß treten dadurch nationale Symbole in den Hintergrund. Die Verbindung mit einer höheren Idee lässt Menschen friedfertig und harmonisch zusammenarbeiten und zusammenleben. Ich kenne eine Reihe von Freunden, die sich den Idealen von »amnesty international« oder »Greenpeace« verschrieben haben. Sich für Gerechtigkeit und den Erhalt der Natur einzusetzen ist gewiss ein wertvolles Anliegen. Eine für mich noch bedeutsamere Stufe der Vereinigung mit Ideen und einem entsprechenden Bekenntnis dazu ist die Mitgliedschaft in der Mutterkirche, der Ersten Kirche Christi, Wissenschaftler, in Boston, USA. Ungeachtet der nationalen Herkunft, ohne die Notwendigkeit, Englisch sprechen zu müssen, ja sogar ohne die Notwendigkeit, das Mutterkirchengebäude jemals betreten zu müssen, haben sich Menschen aus aller Welt diesen Idealen verschrieben.
In einer Kirche schließen sich Menschen zusammen, die ihre nationale Identität bewahren wollen. Durch ihre Bereitschaft jedoch, sich für die Ideen von Mary Baker Eddy, für den Tröster, den sie der Menschheit offenbart hat, einzusetzen und sie zu leben, bilden sie eine Gemeinschaft, die größer, und ich füge hinzu, wichtiger ist, als es nationale Identitäten sind. Ich sagte eingangs, dass mich eine Nationalhymne bei einem Fußballspiel nicht gerade besonders anspricht. Was mich hingegen tief beeindruckt hat, war ein Gottesdienst in der Mutterkirche in Boston. Es war anlässlich einer Jahresversammlung dieser Kirche, als im Gottesdienst ein Lied der Kirchengründerin, Mary Baker Eddy, gesungen wurde. Wohl jeder in diesem Kirchenraum kannte die Melodie und konnte aus tiefstem Herzen kräftig mitsingen. Bei genauerem Hinhören aber stellteichfest, dass Besucher aus Südamerika das gleiche Lied auf Spanisch oder Portugiesisch sangen, Deutsche kannten den Text in ihrer Muttersprache und andere Freunde sangen Englisch. Dieser Sprach-Mix änderte nichts an der Einheit im Geist, aber er vermittelte eine Identität, die mich zutiefst berührt hat.
Auch in Deutschland ist es möglich, das Gemeinsame, das Verbindende an wertvollen Eigenschaften als Grundlage für ein harmonisches Zusammenleben der verschiedensten Nationalitäten zu sehen und den Gedanken an die Einbürgerung von Ausländern auf eine geistigere Stufe zu stellen. Dann kann ein grenzenloses, offenes Land definiert werden, das allen Menschen eine neue Heimat und eine neue Identität zu vermitteln vermag. Diese Identität hat dann wenig mit Äußerlichkeiten und geografischen Grenzen zu tun. Mary Baker Eddy beschreibt sie folgendermaßen:
»Diese wissenschaftliche Auffassung vom Sein, die Materie für Geist aufgibt, bedeutet keinesfalls, dass der Mensch in der Gottheit aufgeht und seine Identität einbüßt, sondern sie verleiht dem Menschen eine erweiterte Individualität, einen umfangreicheren Wirkungskreis des Denkens und Handelns, eine umfassendere Liebe, einen höheren und beständigeren Frieden.« (S. 265)
Möchten Sie nicht auch Bewohner eines solchen Landes sein?