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Verzeihen

»Wer verzeiht, macht sich unabhängig, wer nachträgt, bleibt an den anderen gebunden.«

Aus der Mai 2006-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft

Chrismon-Vertag


Chrismon: Es heisst, verzeihen sei wichtig: für den eigenen Seelenfrieden und die Gesundheit. Aber ist es nicht manchmal gesünder, den groll auszuleben?

Beate Weingardt: Keine Frage: Im ersten Moment kann Wut hilfreich sein. Denn sie gibt dem Menschen Energie, sich abzugrenzen, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. Doch in diesem ersten Selbstschutz stecken zu bleiben wäre fatal. Negativegefühle können etwas beinahe Zwanghaftes bekommen.

Braucht man viel Zeit, um verzeihen zu können? Oder kann es spontan passieren?

B.W.: Es gibt beides. Manchmal verspürt man sofort den Impuls, zu verzeihen, vor allem dann, wenn es keine tiefe Verletzung war oder wenn man von einem Menschen verletzt worden ist, den man sehr liebt – dem Lebenspartner, dem eigenen Kind. Allerdings hat schnelles Verzeihen ein bisschen was von schnell heiraten: Die seelisch-geistige Arbeit, die es braucht, um wirklich zusammenzuwachsen, bleibt einem nicht erspart. Beim schnellen Verzeihen besteht die Gefahr, dass man längerfristig nicht durchhalten kann.

Dauert es also doch länger, bis man ehrlich verzeihen kann?

B.W.: Wie lange es dauert, hängt vor allem von drei Faktoren ab: Wie tief ist die Verletzung? Was kommt mir beim Verzeihen unterstützend entgegen? Also etwa: Gibt es neue, positive Erfahrungen mit der Person? Der entscheidende Faktor aber ist die Frage, wie intensiv ich mich selbst darum bemühe, eine Verletzung zu verarbeiten.

Gibt es Menschen, die weniger gut verzeihen können?

B.W.: Ja. Introvertierte Menschen tun sich oft schwer mit dem Verzeihen. Wer alles mit sich selbst ausmacht, hat nicht die Chance, sich von anderen bei einem Perspektivenwechsel helfen zu lassen. Und gerade das ist so wichtig fürs Verzeihen: in den anderen reinschauen, verstehen, was ihn getrieben hat. Durch Rückfragen eines Zuhörers – das kann eine Freundin, der Partner, ein Seelsorger oder eine Therapeutin sein – werde ich gezwungen, mehr Klarheit in mein Fühlen zu bringen, und verstehe oft auch den anderen besser. Auch Menschen mit wenig Selbstwertgefühl haben mit dem Verzeihen Probleme. Durch eine Verletzung wird das eigene Selbstwertgefühl ja massiv erschüttert und muss erst wieder aufgebaut werden. Außerdem können selbstgerechte Menschen schwer vergeben.

Angenommen, man hat dem anderen verziehen. Aber dann steigen Wut und Enttäuschung wieder in einem hoch. Was raten Sie Menschen, die ihr Verzeihen nicht halten können?

B.W.: Ich rate ihnen, sich zu fragen, was sie dem anderen – vielleicht unbewusst – noch übel nehmen. Dass er zum Beispiel nicht bereit war, für die Zukunft eine Absprache zu treffen. Nach einem Seitensprung etwa ist Verzeihen nur möglich, wenn die Beziehung neu strukturiert wird. Zu sagen: »So was passiert nicht mehr, Schwamm drüber«, kann nicht funktionieren. Und noch etwas ist denkbar beim Nicht-Verzeihen-Können: dass man sich selbst etwas sehr übel nimmt. »Wie konnte mir das passieren, dass ich mich so behandeln ließ?«

Ein anderer Fall: Ich habe dem anderen verziehen, obwohl er sich nicht entschuldigt hat – jetzt bin ich vorsichtig.

B.W.: Zu Recht. Denn Sie haben ihm zwar verziehen, aber Sie haben sich nicht miteinander versöhnt. Das ist ein Unterschied. Sich-Versöhnen setzt ein Schuldbewusstsein des anderen voraus. Dass er auch auf Sie zugeht. Verzeihen dagegen spielt sich in erster Linie im eigenen Denken und Fühlen ab. Dafür brauche ich den anderen nicht. Das ist ja gerade das Schöne: Indem ich verzeihe, mache ich mich unabhängig. Nachtragen dagegen heißt, gebunden bleiben an den, der einen verletzte.

Man möchte natürlich eine Entschuldigung hören, wenn man verletzt wurde!

B.W.: Es ist wunderbar, wenn der Kränkende einsieht, dass er uns wehgetan hat. Aber wir haben keinen Anspruch auf seine Entschuldigung, sie ist und bleibt ein Geschenk. Manche Menschen warten jahrelang auf dieses Geschenk, sie schmollen, vergiften sich kostbare Lebenszeit – und bestrafen sich damit letztlich nur selbst.

Die Fragen stellte Elisabeth Hussendörfer

Zum Weiterlesen: :
Das verzeih ich dir (nie)! Kränkungen überwinden, Beziehungen erneuern. R. Brockhaus, 10,90 Euro

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung vom Chrismon-Vertag

Nachdrucke auf dieser Seite geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion des Christian Science Herold wieder.

chrismon

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