Im späten 19. Jahrhundert fand ein deutscher Forscher, Carl Reinhardt, Telle eines Manuskripts aus dem 5. Jahrhundert (Berlin Codex) auf einem Antik-Markt in Ägypten. Das Buch (Papyrus in einem Ledereinband) war in einem sehr guten Zustand. Das heißt, dass es an einem sicheren Ort aufbewahrt worden sein musste. Weitere Fragmente aus dem 3. Jahrhundert wurden im 20. Jahrhundert gefunden (Papyrus Rylands 463 und Papyrus Oxyrhynchus 3525). Dennoch gibt es keine vollständige Fassung — nur acht Seiten sind erhalten. Laut Karen King fehlt rund die Hälfte der Schrift. Der erhaltene Text indes ist dennoch faszinierend und repräsentiert »eine ra dikale Interpretation von Jesu Lehren als einen Weg zu innerem spirituellen Wissen; die Ablehnung von Leiden und Tod als einen Weg zum ewigen Leben.« Weiterhin macht das Evangelium deutlich, dass Maria von Magdala einen besonderen Platz unter Jesu Jüngern einnahm, wohl sogar eine Vorbildfunktion hatte.
Die ersten sech Seiten Textes fehlen. Das Evangelium beginnt mit einer Szene, in der der auferstandene Jesus zu den Jüngern spricht. Der Inhalt seiner Rede und die Gegenwart einer Frau als vollwer tige Jünger in unterscheiden sich an vielen Stellen von den bekannter en Evangelien. Insbesondere Jesu Bestehen darauf, dass es keine Sünde gibt, wird normalerweise anders dargestellt. So sagt er: »Es gibt keine Sünde, Ihr seid es, die der Sünde Bestand verleihen, wenn ihr den Gewohnheiten eurer ehebrecherisch veranlagten Natur folgt; da ist die Deshalb ist die Güte in eurer Mitte erschienen; sie hat sich mit den Elementen eurer Natur verbunden, um sie wieder mit ihren Wurzeln zu vereinen.« ... » Deshalb leidet ihr und deshalb werdet ihr sterben, das ist die Folge eurer Taten; ihr tut, was euch entfernt.« Deutsche Übersetzung: www.zeitenschrift.com/magazin/50-maria.htm
Der erhaltene Text ist faszinierend und repräsentiert » eine radikale Interpretation von Jesu Lehren als einen Weg zu innerem spirituellen Wissen«.
Mit dieser Aussage verdeutlicht er seine große Menschenliebe (eine Abkehr von der harschen Lehre der Erbsünde), aber er legt die Verantwortung auf den individuellen Menschen. Unsere Taten und Einstellungen machen uns zu Sündern, nicht unser Sein an sich. Einige Aussagen kommen dem Leser aus anderen Evangelien bekannt vor: »Friede sei mit euch — möge mein Friede in euch erweckt und vollendet werden! Seid wachsam, damit niemand euch in die Irre führe, mit Worten }Seht hier, seht da.{ Denn in eurem Innern wohnt der Menschensohn; folget ihm nach: Wer ihn sucht, der wird ihn finden. Erhebt euch! Verkündet das Evangelium vom Reich Gottes!« Mary Baker Eddy hatte die Tatsache ebenfalls erkannt, dass das Königreichs Gottes im Menschen ist, So schreibt sie: »Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen ... In diesem vollkommenen Menschen sah der Erlöser Gottes eigenes Gleichnis und ... heilte die Kranken. So lehrte Jesus, dass das Reich Gottes intakt ist und universal ist und dass der Mensch rein und heilig ist.« Mary Baker Eddy Wissenschaft und Gesundheit, Seite 476/477
Was bedeutet das praktisch gesehen? Es bedeutet, das wir nach innen blicken müssen, dass Erlösung nicht irgendwo in der Zukunft, vielleicht sogar erst nach unserem Tod stattfindet, sondern jetzt und hier, indem wir uns von »Sünde« abkehren. Sünde in diesem weiter en Sinn beschreibt eine Entfernung von Gott durch Taten und Gedanken. Karen King schreibt, dass im Evangelium von Maria die Bedeutung in der inneren spirituellen Verwandlung liegt, nicht auf Sünde und Verurteilung.
Die Warnung vor Regeln und Gesetzen außerhalb der Gesetze Gottes ist interessant.
Nachdem Jesus gesprochen hat, verschwindet er und die Jünger sind voller Unsicherheit und Angst, dass sie das gleiche Schicksal ereilt, wie es Jesus zuteil wurde. An dieser Stelle erhebt sich Maria und versucht seine Worte zu erklären. Sie ist die Einzige, die die Lehre Jesu wirklich verstanden hat und versucht ihr Verständnis an die anderen weiterzugeben. Einge der Jünger, insbesondere Andreas und Petrus, kritisieren sie und glauben ihr nicht. Levi mischt sich ein, verteidigt Maria und unterstreicht die Wichtigkeit von Jesu Aufforderung, die Heilsbotschaft zu verbreiten. Er erinnert an Jesu Warnung, darauf zu achten, dass sie sich nicht in Regeln und Gesetzen verstricken. An dieser Stelle endet der Text. Die Warnung vor Regeln und Gesetzen außerhalb der Gesetze Gottes ist interessant. Wir Menschen sind immer wieder versucht, Regeln, Riten und Gesetze zu schaffen, da dies oftmals einfacher scheint, als den inneren spirituellen Weg zu gehen oder auf Gott zu vertrauen.
Einige Aussagen kommen dem Leser aus anderen Evangelien bekannt vor: »Friede sei mit euch — möge mein Friede in euch erweckt und vollendet werden!«
In der Mitte des erhaltenen Evangeliums erzählt Maria von der Offenbarung des Erlösers über die Begegnung der Seele mit vier Mächten. Der Beginn dieser Passage fehlt, wahrscheinlich handelt es sich aber bei der ersten Macht, mit der die Seele kämpft, um »Dunkelheit«. Die zweite Macht ist Begehren, die dritte ist Ignoranz und die vierte ist Zorn. Die Seele überwindet die Mächte, indem sie sie erkennt und die Wahrheit spricht. Jedes Mal, wenn sie eine der Mächte überwindet, steigt sie höher und näher zu Gott. Ist es nicht auch für uns so, dass wir oft eine Macht, die negativ in unserem Leben wirkt (wie zum Beispiel Begehren oder Stolz), erkennen müssen, um sie dann durch die Wahrheit zu überwinden? Die Bedeutung der inneren spirituellen Arbeit wird in diesem Text über die Seele besonders unterstrichen.
Es gibt auch historische Parallelen zu Mary Baker Eddys Leben und Wirken.
Zum Schluss sehe ich auch historische Parallelen zu Mary Baker Eddys Leben und Wirken, die interessant sind. Beide Frauen hatten ein tiefes Verständnis von Gott und von der Lehre Jesu, ungeachtet vorherrschender theologischer Lehrmeinungen. Beide waren ihrer Zeit voraus: andere (Jünger, Geistliche) verstanden sie nicht oder wollten sie nicht verstehen, verurteilten oder beleidigten sie. Aber ihre Stimme war nicht zum Schweigen zu bringen. Denn die Wahrheit kommt immer ans Tageslicht, ob in Form eines alten Papyrus oder eines erfolgreichen Buches wie Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift.