Ich bin kein großer Vogelbeobachter, aber mich beeindruckt die Schönheit des Weißkopfseeadlers. Der Anblick seiner weiten Schwingen, die ihn so majestätisch und anmutig durch die Lüfte tragen, ist inspirierend. Eine interessante Besonderheit dieser Vögel ist die Mauser ihres Gefieders. Erwachsene Vögel haben jährlich eine komplette Mauser, die sich kontinuierlich durch Frühling, Sommer und Herbst hinzieht. Dieser Prozess, bei dem die neuen Federn die alten hinausstoßen, verlangsamt aber den Flug des Adlers nicht. Während der ganzen Zeit der Mauser fliegt der Adler normal weiter.
Wäre es nicht großartig, jedes Jahr ein komplett neues Gefieder zu haben? Ich denke hierbei mehr an eine innere oder geistige Erneuerung — das Abwerfen oder Beenden alter Denkmuster, einen frischen Ansatz, um Platz zu schaffen für neue Gedanken, vertraute Ideen aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, die Entdeckung völlig neuer Ideen, die uns noch großartiger und anmutiger durch unser Leben führen und unseren Geist und unseren körper heilen.
Die meisten von uns haben Dinge erlebt, die uns zwingen, unser Leben aus einer neuen Perspektive zu betrachten, die einen Bruch mit der Vergangenheit erforderlich machen, einen Neustart. Am Beispiel des Adlers zeigt uns die Bibel, auf welche Art und Weise wir das tun können. Bei Jesaja heißt es zum Beispiel: „... die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden." (Jes 40:31) Warte auf Gott. Ganz gleich, wie trostlos, hoffnungslos oder anstrengend die Dinge auch sein mögen, diese Textstelle enthält das Versprechen der Emeuerung. Die Bibel kündigt an, dass diese Emeuerung entweder schnell oder weniger schnell vor sich gehen wird, aber sie wird auf jeden Fall stattfinden, wenn wir warten.
Doch was bedeutet dieses „Warten"? Ich habe gelernt, dass es nicht eine Sache der Zeit, sondern des Gebets ist, ein geistiger Fokus. Man könnte es „Gedankenbeobachtung" nennen. Damit meine ich, dass wir mit Adleraugen beobachten, was wir denken. Denn dort, im Bewusstsein, ist der Ort, wo die „Mauser" und das „Auffahren" stattfinden. Dieses Beobachten bedeutet nicht, dass wir uns selbst gute Gedanken ausdenken. Es geht darum, eine zuhörende Haltung zu bewahren, die uns aufmerksam macht auf geistige Ideen und Eigenschaften, die im Bewusstsein durch den Geist Gottes oder den Christus auftauchen. Dieser gewaltige Einfluss holt frische, neue, originelle konzepte an die Oberfläche des Bewusstseins. Das Alte und Verbrauchte verblasst. Ich denke dabei an „die Wonne des unbehinderten Gedankens", über die Mary Baker Eddy schrieb, von der Tendenz befreit, das alte Terrain der Vergangenheit abzuschreiten und stattdessen das Strahlen der Erneuerung zu erfahren (siehe Die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler und Verschiedenes, S. 110) Wenn die Last des müden, abgenutzten, traurigen und ängstlichen Denkens abgelegt wird, dann geht es in unserem Leben aufwärts!
Wäre es nicht großartig, jedes Jahr ein komplett neues Gefieder zu haben?
Es mag disziplinierte, ja sogar heroische Anstrengungen kosten, die eigenen Gedanken unter die Lupe zu nehmen und sie mit dem Göttlichen abzugleichen. Paulus, der Apostel, der seine eigene Erneuerungserfahrung hatte, als er vom Christenverfolger zum Christenführer wurde, predigte: „Macht weiter so. Zerlegt eure Gedanken in die einzelnen Bestandteile, legt damit los und hört niemals damit auf! Nichts Großes, geistig Aufgeblasenes, keine störenden Sünden. Richtet euren Blick auf Jesus ... Untersucht, wie er gehandelt hat." (Hebr 12:1,2 Eugene Peterson, Die Botschaft, freie Übersetzung) Manchmal scheint es, als ob die Last der Vergangenheit, das Gewohnte, das Althergebrachte oder das Verletzende, wie ein Parasit an uns klebt. Doch ein offenes Ohr beim Beten macht uns für geistige Einsicht bereit und wenn sie kommt, säubert sie die mentale Atmosphäre und befreit von altem, tödlich belastetem Denken. Wenn sich das Denken bewegt, kommen neue Horizonte in Sicht und neue Möglichkeiten ans Licht.
Paulus deutet auf einen kraftvollen Aspekt des Gebets hin, wenn er Folgendes zu der christlichen Gemeinde in Rom sagt: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene." (Röm 12:2) Oder, wie Peterson es in Die Botschaft ausdrückt: „Hütet euch davor derart an eure Umgebung angepasst zu sein, dass ihr ein Teil von ihr werdet, ohne noch darüber nachzudenken. Richtet stattdessen eure Aufmerksamkeit auf Gott, dann werdet ihr von innen nach außen erneuert werden. ... Im Gegensatz zu eurer Umwelt, die euch immer auf ihre Ebene der Unreife herunterziehen will, fördert Gott in euch das Beste zutage und entwickelt in euch die nötige Reife."
Diesen Gedanken fand ich wichtig, als mein Mann gestorben war. Ich bemühte mich, meine Aufmerksamkeit Gott zuzuwenden, und lauschte auf neue und frische geistige konzepte, die mich aus der Traurigkeit herausheben würden — die mich von innen nach außen verändern würden. Ich liebte meinen Mann weiterhin, aber ich hatte das Gefühl, dass ich die Vergangenheit loslassen und für mich selbst ein neues Leben „schneidern“ musste. Ich wusste, dass es ganz anders werden würde, aber ich wollte, dass es lebendig ist! Und ich machte Forschritte in dieser Richtung. Obwohl ich meinen Mann immer noch vermisste, trauerte ich nicht mehr um ihn. Ich erinnerte die kinder oft daran, wie ihr Vater mir das Gefühl gegeben hatte, schön, intelligent und geliebt zu sein. Allerdings musste ich zugeben, dass das, was ich am meisten vermisste, das „Geliebt-werden“ war. Ich fragte mich, ob ich mich je wieder so geliebt fühlen würde.
Eines Nachmittags, als ich zu meiner Schwiegertochter fuhr, ging ich die Liste noch einmal durch: „schön, intelligent, „geliebt". Als ich bei dem Wort „geliebt" ankam, hatte ich plötzlich einen tiefen Moment geistiger Klarheit. Ich verstand — und Worte können das nur bedingt wiedergeben —, dass Gott schon immer die Quelle der Liebe war, mit der mich mein Mann geliebt hat. Und da Gott mich niemals verlassen hatte, hatte mich auch diese Liebe niemals verlassen. Ich fühlte, wie eine wohlige Wärme meinen ganzen körper durchströmte. Es war ein so ergreifender Moment, dass ich fast am Straßenrand gehalten hätte. Ich dachte nicht bloß darüber nach geliebt zu werden, ich wurde geliebt! Ich klammerte mich lange Zeit an diese “wärmende liebe“.
Nach diesem Erlebnis zeigte ich größeres Interesse am Leben, das um mich herum vor sich ging. Ich bemerkte mehr Beweise von Gottes Liebe im täglichen Leben. Und dieses neue innere Verständnis veranlasste mich, einige Veränderungen im äußeren Bereich vorzunehmen. Ein Freund regte mich durch sein eigenes Beispiel an, weniger beurteilend und weniger selbstgerecht zu sein. Ich wagte sogar einen neuen Haarschnitt und einen etwas moderneren Kleidungsstil. Ich lernte neue Freunde kennen. All das machte einen spürbaren Unterschied. Einer meiner Söhne sagte, dass ich weniger reagiere und offener, ruhiger und glücklicher wirke. Ich freute mich sehr über diese Erneuerung. Es war wie ein Segen — eine Art Höhepunkt all der Gebete um Trost und Verständnis, die dem vorausgegangen waren. Genau wie der Adler brauchte ich dafür eine Weile. Doch genau wie der Adler, bemerkte ich, dass das „Fliegen“ trotzdem weiterging, auch als ich von „innen nach außen“ verändert wurde.
Mary Baker Eddy sagt in ihrem monumentalen Werk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „Die Schöpfung erscheint immer und aufgrund ihrer unerschöpflichen Quelle muss sie immer weiter erscheinen." (S. 507) Daraus folgt, dass die Quelle, Gott, in einem Zustand ständiger Erneuerung ist. Hieraus folgt geistig logisch, dass wir, da wir der Ausdruck des Schöpfers, des einzigen Erhalters sind, über uns selbst ein frisches Gedankenkonzept hegen können — eine unverbrauchte Idee, ein unbeschriebenes Blatt, jeden Tag, jeden Moment. Wir können den Gedanken über uns selbst als „immer-erscheinende" Schöpfung in unser tägliches Tun integrieren. Dann werden wir unvermeidlich wachsende Freiheit von Nervosität, Hoffnungslosigkeit oder Traurigkeit über jegliche Art von Verlust finden, sei es von geliebten Menschen, einem Beruf, einem Heim, ja sogar von einem ganzen Leben, das unserer Meinung nach schief gelaufen ist. Die immer-erscheinende Schöpfung der Liebe schließt immer-erscheinende Lösungen ein.
Gott ist mehr als ein liebender Gott. Er ist die Liebe selbst — großartige, überwältigende, glorreiche, intelligente Liebe. Jeder von uns kann durch diese geistige Wahrheit berührt, inspiriert und geheilt werden. Der heilige Moment, den ich im Auto erlebt hatte, erinnerte mich daran, dass Liebe kein abstraktes flüchtiges Gebilde ist, an das ich lediglich glaube. Es ist die greifbare lebendige Gegenwart Gottes, der uns liebt, egal was geschient. Jeder von uns verdient es, diese erneuernde Liebe zu erleben und weiter zu fliegen!
