Viele Leute erkennen die „Goldene Regel” in der Theorie an, handeln aber, als ob sie lautete: „Tut, was ihr nicht wollt, daß euch getan werde”, oder, „Wie du mir, so ich dir”. Sie begegnen einer unfreundlichen Bemerkung mit einer noch unfreundlicheren, einem scharfen Wort mit einer schneidenden Erwiderung, tragen Beleidigungen nach, äußern sich abfällig über diejenigen, deren Verhalten sie nicht billigen, urteilen in rücksichtsloser Weise und verurteilen auf Grund oberflächlicher Kenntnis, ohne zu bedenken, daß dies der „Zahn um Zahn” Moral sehr nahe kommt. Solange ein Mensch sein Verhalten nach der Behandlung einrichtet, die er von andern erfährt, so lange mißachtet er tatsächlich die hier in Betracht kommenden Worte des Meisters.
Viele Leute glauben, die Erfüllung des Gebotes, Böses mit Gutem zu überwinden, erfordere das Aufgeben eines berechtigten Selbstbewußtseins, einer berechtigten Würde, ja selbst der Männlichkeit. Unfreundlichkeit mit Freundlichkeit, Haß mit Liebe zu vergelten ist in ihren Augen die schwächste, obschon zugestandenermaßen die demütigste Art zu handeln. Ihrer Meinung nach läßt nur ein Schurke oder ein Feigling eine Beleidigung vorübergehen, ohne dem Betreffenden eine Rüge zu erteilen oder ihm heimzuzahlen, und so mancher hat geglaubt das Evangelium von sich weisen zu dürfen, weil es seiner Ansicht nach ein unmännliches, unwürdiges und untätiges Verhalten von ihm fordert. Klarer denkende Geister sind allerdings tief genug gedrungen, um den veredelnden Einfluß der Selbstbeherrschung auf den Charakter zu erkennen, und sie sind zu der Einsicht gelangt, daß demjenigen Macht verliehen wird, der gelernt hat, sich selbst zu beherrschen und der Neigung, sich selbst zur Geltung zu bringen und sich der Selbstbemitleidung hinzugeben, widerstehen kann. Jedoch nur durch die Lehren der Christlichen Wissenschaft tritt der wissenschaftliche Wert des wunderbaren Ausspruchs des Meisters zutage: „Alles nun, das ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.” Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß diese Worte ein ewiges Gesetz zum Ausdruck bringen.
Nicht um ein übermütiges oder ungerechtes Betragen zu ermutigen, nicht um Beleidigungen gutzuheißen oder Grausamkeit ungerügt durchgehen zu lassen, sondern um ein Gesetz zu erklären und die herrliche Wirksamkeit der Macht des Guten zu offenbaren, sagte Jesus: „Segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet [behauptet die Wahrheit] für die, so euch beleidigen und verfolgen.” Seine Worte [die im Englischen „the golden rule“, die goldene Regel genannt werden]: „Alles nun, das ihr wollet, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch”, sind weniger eine Aufforderung zu bedingungsloser Unterwerfung ungerechter Behandlung gegenüber, als eine Aufforderung zu freundlicher und kluger Unterweisung. Sie sollen offenbar den Grundsatz erläutern: „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.”
Bitte anmelden, um diese Seite anzuzeigen
Sie erlangen vollständigen Zugriff auf alle Herolde, wenn Sie mithilfe Ihres Abonnements auf die Druckausgabe des Herold ein Konto aktivieren oder wenn Sie ein Abonnement auf JSH-Online abschließen.